Aus der Fischperspektive

Auf den Spuren einer Insellegende: Emanuele Crialeses Spielfilm „Lampedusa“ ist eine Hymne auf die Schönheit des Lichts, auf die Farben und die Körperlichkeit, mit der sich die Figuren dem Kontrast von Wüstenlandschaft und Meer anheim geben

von CLAUDIA LENSSEN

Lampedusa ist eine kleine Insel nicht weit von Malta, zwischen Sizilien und Tunesien gelegen, ein Steinhaufen unter dem Wind und der Sonne. Dahin hat es den in Rom geborenen und lange in New York ansässigen Regisseur Emanuele Crialese gezogen. Ein paar Monate hat er Land und Leute kennen gelernt, bei der Arbeit zugeschaut und alte Geschichten gehört. Die Spuren einer vormodernen Italianitá haben ihn fasziniert: die Härte des Fischereihandwerks und der Fischverarbeitung in der örtlichen Fabrik, die autoritären Rituale der Dorfgemeinschaft, auch die patriarchalen Ideale zur Wahrung von Sitte und Anstand, die von den älteren Frauen verteidigt werden, um die Position der Söhne als Familienoberhaupt und damit die eigene Macht intakt zu halten.

Crialese hat Rosselinis Inselfilm „Stromboli“ und dessen Star Ingrid Bergman als große Unangepasste im Kopf, hat auch Pasolinis Bilder der sinnlich-aggressiven Körperlichkeit noch ländlich geprägter Jungs auf Lampedusa wiedergefunden. Die Insellegende von einer „verrückten“ Frau, die in den Selbstmord getrieben wurde und – heilsam fürs Gewissen der Dörfler – wieder auferstand, inspirierte ihn schließlich zu seinem Film. Ein Märchen ist „Lampedusa“ geworden, eine filmische Hymne auf die Schönheit des Lichts, der Farben und Bewegungsformen, mit denen sich die Menschen den Kontrasten zwischen der Wüstenlandschaft und dem Meer ausliefern.

Eine raffinierte Mischung aus Starkino und ethnologischer Spurensuche ist entstanden, indem Crialese seine Hauptfigur Grazia, eine heftig emotionale, individualistische Schönheit, mit der Schauspielerin Valeria Golino besetzte. Diese Grazia leuchtet, auch wenn sie unscheinbare Baumwollkleider und Unterrröcke und Gummistiefel trägt. Die Rolle von Grazias Mann Pietro, einem trotz viriler Kraft hilflosen Familienchef, einem Liebenden, der das Falsche tut, hat Crialeses Freund, der New Yorker Videokünstler Vincenzo Amato, übernommen. Die übrigen Rollen sind mit Laien besetzt, deren hart rhythmisierte Sprache und erfahrungssatte physische Präsenz jedes Klischee von Täter- und Opferbildern unmöglich machen.

Da sind die Kinder des Paares, die fünfzehnjährige Marinella (Veronica D'Agostino), die sich lässig konform verhält und doch siegesgewiss einen Liebhaber angelt, und in einer zweiten Hauptrolle ihr dreizehnjähriger Bruder Pasquale (Francesco Casisa), dessen tatkräftige Hilfe das Drama der Mutter zur erlösenden Wendung führt. Der achtjährige Filippo (Filippo Pucillo) ist als perfekter kleiner Macho damit beschäftigt, Sitte und Anstand bei der Mutter und der Schwester durchzusetzen: ein Spiegel der brutalen Erwachsenenordnung, ein Kind, das seine Lektion lernt und mehr als einmal am Eigensinn der Frauen abprallt.

Intensive Bilder bleiben in Erinnerung: Grazia und zwei an sie geschmiegte Kinder auf der Vespa unterwegs in der sengenden Sonne; die wilden Hunde im bunkerartigen Tierasyl; am Ende die Dörfler beim Baden im Meer, aus der Fischperspektive gesehen. Es scheint, als hätte Grazia sie in ihre Welt hineingezogen, in das ihr liebste Element.

„Lampedusa“. Regie: Emanuele Crialese. Mit Valeria Golino, Vincenzo Amato u. a. Italien/Frankreich 2002, 95 Min.