Beim Spülen schweifen die Gedanken nach Kirkuk

Nervös beobachten irakische Turkmenen in Berlin die militärischen Entwicklungen im Nordirak. Den Sturz des Saddam-Regimes haben die meisten der Flüchtlinge gewollt. Aber sie fürchten eine Dominanz der Kurden nach dem Krieg. Und befürworten notfalls auch eine türkische Intervention

„Was sollen wir tun, außer uns der Türkei anzuvertrauen?“, sagt ein Turkmene

Während Mustafa Hüsseyin* in der Küche eines türkischen Restaurants in Kreuzberg die Teller wäscht, sind seine Gedanken weit weg – bei seiner Familie in Kirkuk. Gestern sind kurdische Kämpfer in die nordirakische Stadt einmarschiert, aber noch ist die Lage dort unüberschaubar.

Der Flüchtling aus der Ölstadt gehört zu den wenigen in Berlin lebenden irakischen Turkmenen. Fast jede Familie, so Hüseyin, hat einen Mann aus den eigenen Reihen „beauftragt“, ins Ausland zu gehen. Ihre Aufgabe: Geld verdienen. Die irakische Wirtschaft liegt schon seit Jahren am Boden, das UN-Embargo hat alles nur schwieriger gemacht.

In seinem Tellerwäscherjob verdient er nicht viel. Dennoch schickt er einen Teil des Geldes in den Irak. „Manchmal sind es 100 Euro, manchmal auch 150“, erzählt er. Bislang war es nicht möglich, Geld zu überweisen. Die Scheine wurden deshalb per Kurier geschickt, über die Türkei und den Iran. „Natürlich musste einer aus meiner Familie dann über die faktische Grenze zwischen Saddams Gebiet und den Kurden gehen, um das Geld abzuholen“, berichtet Hüseyin. „Das bedeutete, dass die Hälfte nicht ankam. Denn die irakischen und kurdischen Posten an der Grenze kassierten Schmiergeld.“ Der Krieg hat den kleinen Grenzverkehr unterbrochen. Was jetzt werde, wisse nur Allah.

Über die Nachkriegszeit macht sich Hüsseyin Sorgen. Er wollte zwar, dass Saddam entmachtet wird. Aber er ist gegen eine Herrschaft der Amerikaner und Briten. „Vor allem die Briten“, weiß er, „haben sich als Kolonialmacht bei den Turkmenen unbeliebt gemacht.“ Hüsseyin regt sich plötzlich auf: „Die, die in Basra gestorben sind, sind unsere Brüder. Es ist unser Boden, nicht Saddams Eigentum. Aber auch nicht das der Amerikaner!“

Kemal Bacalan kennt die Stimmung seiner Landsleute. Der Repräsentant der Irakischen Turkmenischen Front in Berlin versucht die Dinge zurechtzurücken. „Sie sind emotional aufgewühlt“, sagt er, „ihre Verwandten sind im Land. Ihre Städte werden bombardiert. Aber unsere Organisation ist fest davon überzeugt, dass Saddam beseitigt werden musste. Und sei es durch die Amerikaner. Das ist unsere politische Linie.“

Bacalan lebt seit neun Jahren in Deutschland. „Ich habe in Jugoslawien Biochemie studiert“, sagt er, grinst und fügt hinzu: „Ich weiß, ein suspekter Beruf heutzutage.“ Nun sitzt er im Anzug in einem großen Büro am Nollendorfplatz und versucht, die Öffentlichkeit auf sein Volk aufmerksam zu machen. Eine hellblaue Fahne mit Halbmond und sechs Sternen schmückt seinen Schreibtisch. Die Sterne symbolisieren die türkischen Staaten, die es in der Geschichte auf irakischem Boden gab. Am anderen Ende des Tisches steht die deutsche Fahne. Auf einem riesigen Fernseher laufen ständig die Kriegsnachrichten von n-tv. „Wir sind gegen einen unabhängigen Kurdenstaat“, sagt er. „Wir sind Iraker. Wir sind für die staatliche Einheit des Landes, deswegen sind wir die einzige größere Minderheit, die sich nie bewaffnet hat.“

Es gibt viele Gründe für die Turkmenen, den Kurden nicht zu trauen. Ali Suphi, ein ehemaliger Großhändler aus Kirkuk, der jetzt auch in Berlin jobben muss, denkt dabei an die Massaker im Jahr 1959. „Damals sind die Kurden in Kirkuk einmarschiert und haben hunderte Turkmenen getötet“, erinnert er sich und kneift die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Eigentlich kommen wir mit einfachen Kurden klar. Auch sie sind Muslime. Aber die kurdischen Politiker …“

Dabei sagen die Turkmenen selbst, dass die Patriotische Union Kurdistans (PUK) des Kurdenführers Celal Talabani den Turkmenen gegenüber tolerant ist. Vor Talabanis Gegenspieler Massoud Barzani haben sie aber umso mehr Angst. Der habe schließlich vor einigen Jahren mit Saddam kollaboriert und die Turkmenen ans Messer geliefert.

Den gebürtigen Kirkuker Bacalan ärgert, dass seine Heimatstadt oft als „kurdisch“ bezeichnet wird. Er habe gehört, dass viele Kurden ihre Ausweispapiere ändern und als Geburtsort Kirkuk eintragen ließen – als Vorbereitung für die Nachkriegsordnung. Überhaupt behaupteten die Kurden immer, es gebe nur 200.000 irakische Turkmenen. „Sie lügen. Wir sind drei Millionen.“ Und die Europäer glaubten das auch noch, beschwert sich Bacalan: „Wir versuchen, mit den Journalisten zu sprechen. Aber die wimmeln uns ab.“

Kemal Bacalan versucht, die verzwickte Lage der Turkmenen darzustellen. „Jede Volksgruppe im Irak bekommt Unterstützung von außen. Auch die Kurden. Hinter ihnen steht der Westen. Was sollen wir denn tun, außer uns der Türkei anzuvertrauen?“ Dabei sei auf den großen Bruder nicht immer Verlass. „Sie haben uns jahrelang ignoriert. Erst in den letzten sechs Jahren gibt es starke Unterstützung.“

Mustafa Hüsseyin glaubt, dass trotz allem die Türkei und ihre Armee das Einzige sei, wovor die irakischen Kurden noch zurückschreckten. „Deshalb“, sagt er, „ist notfalls ein Einmarsch der türkischen Truppen im Nordirak unsere einzige Hoffnung. Sonst sind wir abgebrannt.“ CEM SEY

* Name geändert