Buchstaben eines unbekannten Alphabets

Mit „The Virgin Suicides“, der Nahaufnahme einer Vorstadt von Detroit, wurde der amerikanische Autor Jeffrey Eugenides bekannt. Für seinen nächsten Roman „Middlesex“, für den er gerade den Pulitzer-Preis bekam, brauchte er neun Jahre. Kein Wunder, er zoomt sich durch die alte und die neue Welt

Dies nun ist ein Buch, in dem jede Szene ein ganzes Drama umschließtBerlin erwies Eugenides die Ehre, als Ort der Hoffnung zu fungieren

von KARSTEN KREDEL

Als der in Berlin lebende amerikanische Autor Jeffrey Eugenides kürzlich eine Lesung des scheuen Exzentrikers Denis Johnson moderierte, konnte man sich in einer ironischen Performance wähnen: Der vitalistische Naturbursche Johnson, bis oben angefüllt mit Erfahrung, die sich scheinbar wie von selbst aufs Papier ergießt, trifft auf den metropolitischen Intellektuellen und lässt dessen feinsinnige Fragen auf sein Granit prallen. Ist was dran an dieser Typologie, Mr. Eugenides, heißt also eine Frage im Gespräch. Doch der winkt ab: Wer weiß schon, was das Image verbirgt. Er selbst mag große Städte einfach zu sehr, um sich im Wald zu verkriechen.

Es ist früher Abend, durch das Café Einstein im Berliner Westen klirren Tassen und Stimmen, bald wird ein Bier bestellt werden müssen, gegen die Erschöpfung. Kein Wunder, wenn man vor wenigen Tagen die wichtigste literarische Auszeichnung der USA gewonnen hat. Gut möglich auch, dass sich noch niemand den Pulitzer-Preis so sehr verdient hat: Neun Jahre arbeitete Eugenides an seinem Roman „Middlesex“.

Neun Jahre sind eine lange Zeit, wenn man eine Tätigkeit wie das Dichten finanzieren muss. Eugenides verbrauchte, was er mit seinem Erstling „The Virgin Suicides“ (deutsch: „Die Selbstmord-Schwestern“) verdient hatte und absolvierte die Tour der Aufenthaltsstipendien und Lehraufträge, die ihn nicht ganz zufällig – dem DAAD sei Dank – nach Deutschland führte. „Nette Städte inspirieren Reiseschriftsteller, schwierige Städte produzieren Literatur“, hat er mal geschrieben. Seine schwierigen Städte bislang: Detroit, New York, Berlin. Letztere ist wahrscheinlich die einfachste der drei: preiswert, groß, heterogen, gelassen. Ähnlich dem Paris der Zwanziger, meint er. Und man trifft nicht immerfort auf andere amerikanische Schriftsteller wie in Park Slope, Brooklyn, wo er vorher lebte.

Die schwierigste ist sein Geburtsort Detroit, das Emblem des amerikanischen Jahrhunderts und an dessen Ende Schauplatz eines gigantischen städtischen Verfalls. Die Fließbänder von Ford, die Hitfabrik von Motown und einer der blutigsten Race Riots der amerikanischen Geschichte. Später dann Techno und noch später Eminem, doch daran war noch nicht zu denken, als Eugenides in Grosse Point aufwuchs, einem der vorstädtischen Fluchtorte von WASPs und allen, die sonst noch zugelassen waren im Klub. Er hätte zu den Jungs aus „The Virgin Suicides“ gehören können, die in ihrer Faszination für die fünf blonden Töchter der Familie Lisbon so gebannt sind, dass sie nur zuschauen können, wie sie sich nacheinander das Leben nehmen.

Ein sehnsuchtsvoller Stimmenchor – das Buch hat einen Wir-Erzähler – erinnert sich an die weit zurückliegenden Ereignisse. „The Virgin Suicides“ klingt wie ein elegisches Summen. Oder wie der Air-Soundtrack des Films von Sofia Coppola. Dann tritt man näher und lauscht der eigenartigen Melodie einer detektivischen Suche, bei der die Rätsel immer größer werden. Grosse Point ist ein entrückter Ort, der im Flimmern des Sommers und der Starre des Winters unbewegt daliegt; nur von weit her hört man – ahnt man eher – die Wirklichkeit der wütend aufheulenden Stadt. Die Jungs hocken hinter ihren Fenstern und beobachten die Lisbon-Mädchen, die ihnen wie „Buchstaben eines unbekannten Alphabets“ erscheinen. Voller Schuldbewusstsein schrecken sie vor dem ersten Schwarzen zurück, dem sie in der Vorstadt-Mall begegnen; im Juni fegen sie panisch die Schichten der Fischfliegen weg, die das Viertel heimsuchen. Und so sehr sie auch denken, den Mädchen näher kommen zu wollen – eigentlich sind sie es, die ihnen den Schleier vors Gesicht halten.

„Middlesex“ führt wieder nach Grosse Point, doch diesmal ist alles anders: Der Blick weitet sich zu epischer Breite, die Vorstadt wird zu einem Teil von Detroit und Detroit zum Schauplatz der mehrere Generationen umspannenden griechisch-amerikanischen Geschichte der Familie Stephanides – und des Hermaphroditen Cal, der als Kind das Mädchen Callie war. In „The Virgin Suicides“, erzählt Eugenides, habe er sich formale Einschränkungen auferlegt, um sich beizubringen, das Buch zu schreiben. Danach gönnte er sich mehr Freiheit: „Ich wollte ein Buch voller Energie, Ereignisse, Komik und Wärme schreiben.“

Sein Problem war der Erzähler: „Er musste die epischen Ereignisse in der dritten Person und zugleich die intime Geschichte eines psychosexuellen Dramas in der ersten Person erzählen können.“ Zwei Jahre lang schrieb Eugenides immer wieder die ersten fünfzig Seiten, dann hatte er ihn. Und ließ ihn abheben: Er fährt hoch über Zeiten und Orte, beweint die Zerstörung der Stadt Smyrna durch die Türken im Jahre 1922, reist über den Ozean, schlüpft durch das Nadelöhr von Ellis Island und nimmt den Zug nach Detroit, wo er an einer Wand Diego Riveras mythisches Panorama der Automobilindustrie entstehen sieht und selbst eines von Jahrzehnten amerikanischer Geschichte entwirft, von der Prohibition bis zum Ende des Vietnamkriegs. Doch er schwebt nicht nur über den Ereignissen, er hält sie auch an und winkt uns heran: Hier, genau hingeschaut … Er blickt durch die Augen seiner eigenen Großmutter, als sie als junge Frau mit der Straßenbahn vom griechischen Viertel in das schwarze Ghetto fährt, wo Jahrzehnte später die Panzer der Nationalgarde einrollen werden, und landet nach der Hälfte von „Middlesex“ bei seiner eigenen Geburt – als Junge im Körper eines Mädchens.

Es gibt diese Filme, von denen es heißt, man könne jedes Bild rahmen; dies ist nun ein Buch, in dem jede Szene ein ganzes Drama umschließt. Am Ende teilt Cal das Alter und den Wohnort seines Autors, wie er ein griechischer Amerikaner. Er erzählt sein „unmögliches Leben“, erfindet, was er nicht genau wissen kann, und wagt noch einmal einen Anfang. Der Pulitzer-Preis kam nicht wirklich überraschend – „Middlesex“ ist das Buch der Saison. Die amerikanischen Kritiker liebten seinen „hysterischen Realismus“. Und wir freuen uns, dass Eugenides Berlin die Ehre erwies, als Ort der Hoffnung zu fungieren. „Das wird dem Verkauf in Deutschland nicht schaden“, lacht er.

„Middlesex“ von Jeffrey Eugenides erscheint am 17. Mai im Rowohlt Verlag