Mit den Augen des Westens

Auch wer den Kontext der Künstler versteht, kann von der Bedeutung ihrer Arbeiten enttäuscht sein: das Theaterprogramm des Berliner DisORIENTation-Festivals

Höflichkeit alsHaltung tut demKulturaustauschnur begrenzt gut

„Warum stellen Sie all diese Fragen?“, fragt der Mann. „Weil wir reden“, antwortet die Frau. „Was möchten Sie denn noch wissen?“, fragt der Mann, „ob ich aus Ost- oder Westbeirut komme? Ob ich den Krieg am eigenen Körper erlebt habe? Ob ich nachts schlafen kann? Ob ich von zerfetzten Körpern träume?“ Endlose Minuten stellt er nun ihre Fragen, atemlos, gereizt, resigniert, mit der aggressiven Hilflosigkeit eines Menschen, der weiß, dass sie Klischees entsprechen, weiß, dass sie der Wahrheit entsprechen, und vor allem weiß, dass sie völlig unerheblich sind. Längst lebt der Mann in New York, um fort zu sein von dem, was ihn nie verlassen wird. Wie auch bei den anderen beiden Libanesen, die die Beiruter Künstlerin Abla Khoury für ihre Videoperformance „10/20 irrelevant“ interviewt hat, unterliegt all seinen Reaktionen auf Fragen nach Biografie, Geschichte und nationaler Identität eine illusionslose Gegenfrage: „What difference does it make?“ Was für einen Unterschied macht das?

Abla Khourys nur 35-minütige Performance, die am Wochenende im Rahmen des Theaterprogramms des DisORIENTation-Festivals am Berliner Haus der Kulturen der Welt gezeigt wurde, überzeugte als die komplexeste der fünf präsentierten Arbeiten. Über einen Laufsteg aus rohen Eiern betrat die 30-Jährige die Bühne, um sich vor eine Leinwand zu setzen, die parallel in drei Bildfenstern Sequenzen von Videoaufnahmen der Interviewten zeigte. Die Interviews selbst – über sexuelle, schauspielerische und materielle Selbstverwirklichung – wurden hingegen über Lautsprecher chronologisch eingespielt, wobei die Geschwindigkeit der Dialoge nahe legte, dass sie nicht authentisch, sondern gescriptet waren. Aber: Was für einen Unterschied macht das?

Ähnlich wie der Beiruter/New Yorker Künstler Walid Raad stellt Khoury mit ihrer Arbeit Fragen nach Authentizität und den Bedingungen, unter denen wir bereit sind, etwas als „echt“ und damit „wahr“ zu akzeptieren. In Paris, spricht Khoury ins Mikrofon, habe sich Milan Kundera in einem Café zu ihr gesetzt und erklärt, sie sei die Figur seines neuen Buches. Eine Frau, die sich in eine Ameise verwandelt. Da wollte sie ihm von Kafka und Gregor Samsa erzählen, aber sie habe es nicht getan, denn wer sei sie, sagt sie, Kundera über „Die Verwandlung“ aufzuklären. Kurz darauf spricht sie davon, wie das Fernsehen sie gefühllos gemacht habe, während hinter ihr auf der Leinwand langsam das Auge eines Tieres zerschnitten wird. Fast so, als warte sie, ob jemand aus dem Publikum sie nun über Buñuels „Chien (Andalous)“ aufklären wolle. Und vor allem: was es dazu zu sagen gäbe.

Die Bedeutung von Kontexten für die Enstehung und Rezeption von Kunstwerken war von den Festival-Organisatoren bereits im Vorfeld immer wieder betont worden. Das breit angelegte Programm von DisORIENTation, das neben Theater auch Literatur, Film, Musik und Bildende Kunst aus dem Nahen Osten präsentiert, vermittelt als solches schon einen ersten Kontext, nämlich den der zeitgenössischen Kunstproduktion der Region. Dass dieser horizontale Ausschnitt zumindest im Bereich des Theaters nicht reicht, die Bedeutung einzelner Arbeiten wertzuschätzen, wurde am Wochenende deutlich. Die Eröffungsveranstaltung etwa, Ahmed al-Attars „Life is Beautiful or Waiting for my Uncle from America“ beschreibt die ägyptische Journalistin Nehad Selaiha als „visuell äußerst innovatives“ Stück, das auf das ägyptische Publikum einen „fast gewaltsamen Schock ausübt und dadurch geradezu gefährlich in seinem Befreiungsgestus wirkt“. Das mag verstehen, wer weiß, dass sich Freies Theater in Ägypten erst in den Neunzigern zu formieren begann, dass das zensierte Staatstheater und eine große Boulevardindustrie bis heute die Landesbühnen beherrschen und Alltagssprache in Kairos Theater noch immer keine Selbstverständlichkeit ist. Wer dies jedoch nicht weiß, sieht eine gut gespielte Groteske und will nicht glauben, dass wirklich Levis, ein Nokia Handy und eine blonde Freundin mit grünen Augen die wichtigsten Dinge sind, die der ägyptische Mittelstand heute zu verhandeln hat.

Ähnlich enttäuschend „Shutter Speed“, eine Kollaboration des libanesischen Choreografen Omar Rajeh mit dem ägyptischen Tänzer Bassem Adly. Die „Konzeption männlicher Sexualität“ sollte durch die Kontrastierung des traditionellen Tahteeb-Tanzes mit alltäglichen Aktivitäten untersucht werden. Auf westliche Augen wirkte die Kombination von martialischem Stabtanz und exzessivem Einsatz von Rasierschaum jedoch mehr wie eine gut konservierte Performance der frühen Achtziger. Das mag der Sache nicht gerecht werden, doch Ungerechtigkeit ist eine anerkannte Eigenschaft des Publikums, und Höflichkeit als Haltung tut auch dem interkulturellen Kulturaustausch nur begrenzt gut. Weshalb ebenfalls angemerkt werden darf, dass Sherif al-Azmas zweifellos bestechend an der Schwelle von Improvisation und Stilisierung changierendes Video über die Alpträume junger Stewardessen nicht wegen eines DJ-Soundtracks und einer leiblichen Sängerin zum Abspann „im Schnittfeld von Film, Musik, Performance und Installation“ zu verorten ist, sondern schlicht ein charmantes Video bleibt.

„Es ist wie im Krieg, wenn du das Geräusch der fallenden Bombe hörst: Entweder du kommst davon oder es erwischt dich. Die Bombe, das ist die Reaktion des Zuschauers“, schrieb Rajeh im Programmheft. In Berlin ist wenig eingeschlagen, was unter pazifistischen Gesichtspunkten zu begrüßen ist, aber unter ästhetischen schade war.

CHRISTIANE KÜHL