Nadja fliegt aus ihrer Zweiraumwohnung

Eine große Sammlung zerfällt: Die 4.200 Stücke, die André Breton zeitlebens zusammenbrachte, werden versteigert. Immerhin: der Umsatz stimmt

André Breton – „zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten“. Ein Schlag mit dem Elfenbeinhämmerchen geht auf ein Holzpult nieder. Eine Leuchtschrift zeigt den Preis in fünf Währungen an. Er hat sich in eineinhalb Minuten verneunfacht. Im Saal ist das nächste Stück dran: ein eingerissenes Blatt Papier mit einer Zeichnung von „Nadja“. Das war jene Geliebte des Herbstes 1927, die wenig später in einer Nervenklinik verschwand. Sie stand dem Surrealisten Patin für seine gleichnamige Erzählung.

Heute noch und morgen. Dann ist es vorbei. Dann werden die mehr als 4.200 Stücke aus der Sammlung von André Breton in alle Welt zerstreut sein. Dann wird die Verkaufsausstellung im Auktionshaus Drouot im 9. Arrondissement von Paris schließen. Dann werden die Masken, die Fetische und die Weihwasserbecken, die Gemälde von Miró, von Brauner und von Chirico, die Fotos von Man Ray und Manuel Álvarez Bravo, die Originalmanuskripte und die Widmungen von Schriftstellern und von exilierten Revolutionären wie Trotzki und die Münzen für den Transport verpackt werden. Die größeren Stücke können im Erdgeschoss, bei der Warenausgabe, abgeholt werden.

Beinahe ein halbes Jahrhundert lang hat der 1896 geborene Breton alles gesammelt, was ihn inspirierte. Nach seinem Tod im September 1966 hat seine letzte Frau Elisa die Zweiraumwohnung mit Mezzanin am Fuß des Pariser Stadtteils Montmartre so erhalten, wie er sie hinterlassen hatte: als voll gestopftes Privatmuseum. Gleichzeitig hat sie versucht, zusammen mit der Tochter und der Enkelin Bretons, den französischen Staat zu interessieren. Die Erbinnen haben alles Mögliche vorgeschlagen, um die Sammlung mit Stücken aus sämtlichen Phasen der surrealistischen Bewegung zusammenzuhalten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen: eine Breton-Stiftung, ein Breton-Museum, ein Breton-Zentrum.

Nichts davon hat funktioniert. Der französische Staat interessierte sich bloß für Einzelstücke. So übernahm er nach dem Tod von Elisa Breton im Jahr 2000 die „Mauer“, eine Wandgestaltung aus der Zweiraumwohnung, mit modernen Gemälden, mit Kunsthandwerk und mit Zeichnungen. Als Erbschaftssteuerersatz. Die „Mauer“ ist heute im Centre Pompidou zu sehen. Als Parlamentarier, Künstler und Intellektuelle einen letzten Appell starteten und sogar demonstrierten, um die Breton-Sammlung als Ganzes und in Staatshand zu erhalten, antwortete Frankreichs Kulturminister Jean-Jacques Aillagon, er wolle keine „Mumifizierung“.

Anfang April landete die Breton-Sammlung in der Verkaufsausstellung des Auktionators „Drouot“. Damen mit Hündchen auf dem Arm, und Herren mit Taschenrechnern ziehen daran vorbei. Wer ein Objekt aus der Nähe begutachten will, lässt eine der jungen Damen mit weißen Stoffhandschuhen kommen. Sie nimmt das Objekt aus der Vitrine und hält es dem Kaufinteressenten unter die Nase.

Die Investition in den Wert Breton scheint sich zu lohnen. An den ersten fünf Auktionstagen, bei denen vor allem Bücher und Manuskripte unter den Hammer kamen, liegt der Verkaufspreis durchschnittlich 60 Prozent über den Expertenschätzungen. Insgesamt wechseln in fünf Tagen 7 Millionen Euro den Besitzer. Unter den Käufern ist auch der französische Staat. Ein Museum der Stadt Nantes, die große Bibliothek in Paris und einzelne Museen der Hauptstadt haben Objekte erworben. Kulturminister Aillagon hat ihnen dafür das Kaufrecht garantiert. Das war sein einziges Zugeständnis. Unter den Stücken, die solcherart in Staatsbesitz gelangen, ist auch das einzige komplett erhaltene Breton-Manuskript. Die „Arcanes 17“ haben 836.510 Euro gekostet.

Den Gegnern des Ausverkaufs bleibt nur die symbolische Aktion. Manche Schriftsteller haben vor den Toren der Verkaufsausstellung auf der Straße demonstriert – je mit einer Ausgabe von „Nadja“ in der Hand. Andere machen ihrer Wut im Gästebuch des Auktionshauses Luft. Jemand hat eingetragen: „Gibt es in Frankreich noch eine Kulturpolitik?“

Statt eines Museums wird der Nachwelt ein siebenbändiger Katalog mit sämtlichen Stücken aus Bretons Sammlung bleiben. Und eine CD-ROM mit beweglichen Bildern aus seiner Wohnung. Breton, der Surrealist, ist virtuell geworden. DOROTHEA HAHN