Bartleby kommt heute nicht mehr

Christoph Marthaler wäre lieber kein Diskursregisseur. An der Berliner Volksbühne hat er mit „Lieber nicht“ seine Version der Erzählung „Bartleby, der Schreiber“ inszeniert. Dem globalisierungskritischen Hype um Herman Melvilles Figur entzieht er sich

Graue Menschen falten sich wie einst das siebte Geißlein in der Standuhr

von EVA BEHRENDT

Ist Herman Melvilles „Bartleby“ nicht Christoph Marthalers heimliches Dauerthema? Ist nicht die renitente Verweigerungshaltung seines blässlichen Notargehilfen, geronnen im weltberühmten „I would prefer not to“, bislang durch jede einzelne Marthaler-Inszenierung gegeistert? Alle Anna-Viebrock-Bühnen verrottete Bürokratenverliese, Grabkammern schwülstiger Spießerekstasen, staubige Abteilungen für unzustellbare Briefe? Der Witz und der Slapstick nicht eigentlich der Galgenhumor bemitleidenswerter Verlierer und einsamer Menschen, die in einem verlangsamten, dementen, sperrigen Theater gegen das Leben protestierten, indem sie sich jeglicher Handlungslogik versagten? Und sind nicht sogar die Finanzkrisen seiner Zürcher Intendanz im Grunde bartlebyesk?

Auf jeden Fall soll Christoph Marthaler spontan mit „lieber nicht“ geantwortet haben, als ihn der ehemalige Volksbühnen-Dramaturg (und künftige Hebbel-Intendant) Matthias Lilienthal fragte, ob er nicht Melvilles Erzählung aus dem New Yorker Frühkapitalismus (1853) auf die Bühne bringen wolle. Dass Marthalers Antwort dann zum Titel des natürlich dennoch entstandenen Abends wurde, ist fast so sophisticated wie der Diskurs, der sich um Bartleby als Denkfigur spinnt.

Der blässliche Notargehilfe aus der Erzählung „Bartleby, der Schreiber“, der erst die Arbeit, dann die Kommunikation und schließlich die Nahrung verweigert, hat in den letzten Jahren eine ganze Flut von Spätfolgen hervorgerufen. Unter anderem deshalb, weil die progressive Linke mit den Philosophen Deleuze und Agamben ausgerechnet in der Lemure Bartleby einen letzten Hort der Freiheit ausgemacht hat: Der Mann entscheidet sich nämlich mit seinem konsequent konjunktivischen „I would prefer not to“ durchaus für etwas – dafür, sich für nichts zu entscheiden. Er wählt keine alternative Weltsicht, sondern das Nichts: Im neoliberalen Kapitalismus, wo jede Geste der Abweichung durch potenzielle Vermarktung ins System integrierbar ist, verhieß Bartlebys Negation mit einem Mal – Kraft.

Was den Bartleby-Exegeten bislang weniger wichtig war, ist der fassungslose Chef, der Icherzähler, der seinen Angestellten beobachtet und beschreibt, ausführliche Mutmaßungen über mögliche Motive seines Verhaltens anstellt, aber auch protokolliert, welche Gefühle und Überlegungen jener in ihm selbst auslöst. In seiner Rolle findet man sich nun plötzlich als Zuschauer wieder – zumindest in seiner Erwartungshaltung. Denn wie der Erzähler lauert man auf ein Zeichen Bartlebys dort vorne auf der Bühne, auf eine Auskunft über seine Person (die ausbleibt), einen Kommentar zu seiner Bedeutung als intellektueller Kühlerfigur der Globalisierungskritiker (da kann man lange warten). Bis man plötzlich einsieht: Bartleby kommt nicht mehr. Er ist schon da und tut, was ihn auszeichnet: Er entzieht sich.

Anna Viebrock hat ein meterdickes, weißes Monstrum von Kunststoff-Kassettendecke über schmächtigen Raumteilern in Richtung Publikum gewuchtet. Der fensterlose Saal darunter könnte mit seinen neun Pianos Klavierverkaufsraum sein. Oder Schuhgeschäft. Denn zahlreiche zierliche Schemel werden von zwei älteren, mit Schuhlöffeln bewaffneten Damen (Susanne Düllmann und Heide Kipp) gelegentlich mit Pantoffelware beliefert. Im Hintergrund des Ladens deutet sich eine altertümliche Schreibstube an, gelegentlich treten hier junge Männer an mechanische Schreibmaschinen und tippen den Takt von „Bolero“ oder dem „Hochzeitsmarsch“. Es ist die einzige Ecke, die auf Bartleby verweist; denn sie ist überschrieben mit den Buchstaben DEAD LET, was einmal DEAD LETTERS – unzustellbare Briefe oder auch einfach tote Buchstaben – geheißen haben könnte. So hieß schon die Abteilung in Washington, die Bartleby zum Totalverweigerer gemacht hat.

Generell neigen Marthaler-Inszenierungen ja nicht eben zu sich überstürzender Ereignishaftigkeit. „Lieber nicht“ ist zusätzlich ausgedünnt bis auf die letzten Strähnen, die man noch quer über die Glatze schmiert: Es ist ein äußerst schmales, teils bereits vertrautes und so gut wie wortloses Set an Kompositionen, Gesten und Szenen, das die vier Pianisten David Marton, Jochen Neurath, Stefan Schreiber und Clemens Sienknecht sowie die Schauspieler Matthias Matschke, Alexander Scheer, Winfried Wagner, Ulrich Voß plus Schuhverkäuferinnen immer neu variieren und wiederholen. So stehen graue Menschen wie überflüssige Möbel herum, falten sich auf und zusammen wie das siebte Geißlein in der Standuhr oder drehen einfach stumm und demonstrativ die Gesichter zur Wand. Immer wieder stellen die Herren den Fuß auf einen der Schuhschemel wie auf einen erjagten Tiger und ziehen ihn, sobald sich eine der rot ondulierten Damen über ihre Schnürsenkel beugt, abrupt wieder fort. Wenn sich Paare zum Walzertanz bilden, kippen die Männer um, Vanillepudding und Kartoffelchips landen – lucky Hungerstreik – auf dem Fußboden, Klavierspiel und Chorgesang brechen ab oder nicken weg.

Mindestens fünfzigmal trichtern die Performer dem Publikum das Schützengrabenlied „Just before the Battle, Mother“ (1862) von G. F. Root ein, in allen Lautstärken, Tempi und abschließenden Transponierungen in die Tiefe. Doch alles US-Anspielungsreiche, ob Civil-War-Kompositionen oder Charles Ives „Variations on America“, versickert wieder in alteuropäischer Romantik und im Virtuosentum. Wenn die Pianisten improvisierten Unfug treiben mit englischen und amerikanischen Hymnen, verweigern sich die Instrumente und verstimmen mitten im Spiel. Und kaum beginnt man, hier nun doch einen aktuellen Kommentar zu vermuten, fährt einem ein liebenswürdig kauziger Klavierlehrerhumor in die Parade, etwa, wenn sechs Leute beim Umblättern der Liszt-Noten zusammenstoßen, wenn die Fingerübung zur gymnastischen Exerzitie gerät oder einer der Pianisten für fünfzehn Minuten in Pascal-von-Stocki-Schmalz erstarrt.

Melvilles Erzähler erkennt in Bartleby nicht den freien Menschen, sondern das in seiner Isolation gefangene und letztlich entmenschlichte Modernisierungsopfer: Bartleby, der gerne auf die schwarz verfärbten Wall-Street-Wände starrt, ist vom Tod schon infiziert. Auch Marthaler, der lieber kein Diskursregisseur sein will, zeichnet unter den Mikropointen an der Oberfläche zehn zutiefst Einsame, die immer wieder aufeinander zugehen und sich immer wieder voneinander abwenden und dieser Mechanik ausgeliefert bleiben. Auf der Bühne ist das – anders als in den DEAD LETTERS – nicht der Tod, sondern das Leben.