Bildungsroman mit Landei

Hier kommt Lolle: mit einem Gegenentwurf zum Luder-Programm und zu den Bildern der Neuen Mitte aus den Neunzigern. Heute Abend startet die zweite Staffel von „Berlin, Berlin“. Das ist die Vorabendserie, auf die sich derzeit alle einigen können

„Ich wäre gern so tolerant wie Lolle. Und ich wäre gern so mutig wie sie“

von DIRK KNIPPHALS

Vier junge Leute in Berlin. Liebeskummer auf der Dachterrasse, skurrile Großstadtabenteuer, jugendkulturelle Anspielungen, emotionale Verwicklungen, Freundschaftsverläufe, Trennungen, Begegnungen, Hauptstadt mal anders und flotte Sprüche – eins der vielen schönen Dinge an der Fernsehserie „Berlin, Berlin“ ist, dass man sich gar nicht mehr recht vorstellen kann, wie sehr sie auch hätte in die Hose gehen können.

Aber das hätte sie wirklich können. Man kennt das ja zur Genüge von deutschen Fernsehserien. Wie hanebüchene Plots nur dazu dienen, von einem betroffenen Blick zum nächsten überzuleiten. Oder diese gestelzten Dialoge in ausgesucht hippen Locations. Nicht, dass „Berlin, Berlin“ solche Ausrutscher ganz fremd wären, aber dieser Produktion verzeiht man sie. Und bekommt dafür Highlights wie die als Slapstickpaar auftretenden russischen Mafiosi Bebetov und Chrustschev. Oder man bekommt folgenden Dialog, nachdem Lolle und Sven miteinander geschlafen haben. Lolle: „Was geschah, geschah in einer Extremsituation.“ Sven: „Lolle! Wir haben ferngesehen. Das ist keine Extremsituation.“ Lolle: „Nein?“ Sven: „Nein.“ Lolle: „Für mich schon.“ – Heute startet jedenfalls die zweite Staffel, und man darf sich sicher sein, dass um 18.50 Uhr wieder viele Menschen, die man mit deutschen Vorabendserien eigentlich jagen kann, die Taste mit der 1 auf der Fernbedienung drücken.

Nun werden die ersten beiden neuen Halbfolgen heute und morgen allerdings nicht zu den stärksten gehören. Was nicht allein daran liegt, dass man Zeit braucht, sich an Lolles neue Frisur zu gewöhnen; ein wenig Trauerarbeit gilt es in Bezug auf den alten Pferdeschwanz mit Pony allerdings schon zu leisten. Darüber hinaus nimmt die Handlung allerlei Umwege in Kauf, um die Raue-Schale-aber-herzlicher-Kern-Freundin Rosalie zu verabschieden (die Schauspielerin Sandra Borgmann wollte nicht mehr, altes Seriendilemma) und die Nachfolgerin Sarah einzuführen, worin sich ein leicht störender Wille zum Qualitätsprodukt ausdrückt: Bloß jede Wendung im Skript ordentlich motivieren!

Ein letztes, mäkelndes Wort noch. Einen schweren inhaltlichen Fauxpas gibt es anfangs auch: Eine Schlägerei um Immobilienanzeigen ward auf dem entspannten Wohnungsmarkt im realen Berlin wohl lange nicht mehr beobachtet. So etwas hat einen Hauch von München oder Frankfurt am Main oder auch Düsseldorf. Aber Berlin? Nee!

Aber so ist das eben mit dem Fantum: Da müssen schon ganz andere Dinge geschehen, bevor man seine einmal gewährte Zuneigung wieder abzieht. Lieblingsfernsehserien – und selbst, wenn sie wie in diesem Fall gelegentlich einen dezenten Spin zur Kategorie der peinlichsten Lieblingsfernsehserie haben – werden eher im Ganzen adoptiert, als dass man sie Folge für Folge bewertet. Außerdem kann man sich so Gedanken über den Erfolg dieser Serie machen, der – interessante Sache – nicht von der ersten Folge an da war, sondern sich allmählich, durch Mundpropaganda und durch Akkumulation verschiedener TV-Nutzergruppen, eingestellt hat.

Es ist eine ungewöhnliche Koalition, die sich hier zur Fangemeinde zusammengefunden hat. Die Kernzielgruppe der aufgeschlossenen Mädchen schickt fleißig süße Fanmails – googeln Sie mal „Lolle“, Sie werden staunen! Die Jurymitglieder des Grimme-Preises konnten sich neulich gar nicht mehr einkriegen: „Witzig, unterhaltsam, fröhlich, vital, komisch, humorvoll, liebevoll“, so die Hauptadjektive in ihrer Begründung der Preisvergabe an die Hauptdarstellerin Felicitas Woll und den Hauptdrehbuchautor David Safier. Von Seiten des Feuilletons liegen darüber hinaus Liebeserklärungen an Lolle von gestandenen Intellektuellen vor. Unsereinem sind außerdem eine ganze Reihe mitten im Leben stehender, erwachsener Personen bekannt, die sich zwar selbst ab und an über sich selbst wundern müssen, aber auf „Berlin, Berlin“ nichts kommen lassen.

15-jährige Mädchen und 45-jährige Kritiker also. Werber, Lehrer und Abiturientinnen. Nenn es Mainstream, und du vergisst, dass es auch einen konservativen Mainstream gibt, der sich über den „Steuersong“ beeumelt und von dem etwa die FAZ kürzlich noch hoffte, dass er gegen Rot-Grün wegen der Rentenbeiträge auf die Barrikaden steigt. Für die meisten Jurastudenten scheint mir „Berlin, Berlin“ jedenfalls nicht gemacht zu sein. Nenn es, gut soziologisch, postmodern-hedonistisches Milieu, und du klingst ein wenig hölzern. Nenn es Neue Mitte, und du wirst einerseits schon irgendwie Recht haben. Andererseits ist „Berlin, Berlin“ auch ein Gegenentwurf gegen die Bilder von der Neuen Mitte, wie sie in den Neunzigern in der kollektiven Fantasie wucherten. Das erst macht das Interessante am gedanklichen Gerüst dieser Serie aus, auf die sich derzeit alle einigen können.

Neue Bürgerlichkeit? Soll es geben, aber nicht bei uns. Family values? Später vielleicht, aber erst mal nicht – was aber nichts übers Kinderkriegen besagt. Karriere? Kann man machen, muss man aber nicht, und Freundschaften dafür aufgeben ist sowieso das Letzte. Aber als alternatives Leben versteht man seinen Existenzentwurf auch nicht, eher schon als irgendwie normal. Was das heißen mag, wird man sehen.

Es sind keine großen, lebensstrukturierenden Projekte, die die vier Hauptfiguren aus „Berlin, Berlin“ umtreiben. Eher die tagtäglichen Fragen in dieser freundlich unübersichtlichen Welt (mit gelegentlichen Fallen, in die man hineintappen kann): Welchen Job mache ich heute? Mit wem gehe ich morgen essen? Was fange ich mit meinem Leben an? Nur Sven hat ein richtiges Problem. Er kann sich zwischen Familienwunsch und der wahlverwandtschaftlichen Ersatzfamilie rund um Lolle nicht entscheiden. Das liefert Material für viele Cliffhanger.

Und dann kommt Lolle. Es ist diese Figur, die in diese Mischung aus Tagträumerei und Pragmatismus Druck hineinbringt. Sie, das „Landei“, nach dem Abitur aus Malente nach Berlin gezogen, treibt unterschwellig noch eine ganz andere Frage um: Mache ich hier wirklich das Richtige? Ohne dass das groß aufgeplustert wird, komplettiert erst diese Suche nach dem (für einen selbst) richtigen Leben die eigentümliche Mischung dieser Serie.

Wie ist der Erfolg also zu verstehen? Wer bei dem Menschen anruft, der sich das alles ausgedacht hat, stößt auf einen freundlichen Mittdreißiger, der auch dann höflich bleibt, wenn einem auch keine anderen Fragen einfallen als all den anderen Pressevertretern, die bereits versucht haben, das Geheimnis dieser Sendung zu ergründen. Es muss, na klar, irgend etwas mit dieser Figur der Lolle zu tun haben, und David Safier erzählt also noch einmal die Gründungslegende der Serie: dass er eigentlich den Auftrag hatte, für eine bestimmte Schauspielerin eine Serie zu entwerfen; wie das, was er dann entwickelte – eine idealistische Anfängerin zieht nach Berlin und lernt aus den negativen Erfahrungen, die sie dort macht –, auf diese Schauspielerin dann aber nicht mehr passte; wie sie dann aber Felicitas Woll fanden, die mit ihrem Talent für komisches Timing der Lolle Leben einhauchte. Fertig war der fernsehgerechte Bildungsroman mit Landei.

Eins ergab sich also in das andere. David Safier legt Wert darauf, dass er seine Protagonistin nicht am Reißbrett entworfen hat. Vielleicht reicht diese Charakterisierung ja schon, um in deutschen Vorabendserien positiv aufzufallen. Sogar eine Diplomarbeit gibt es bereits, in der untersucht wird, wie identitätsstiftend Lolle auf junge Frauen wirkt. David Safier lässt es sich nicht nehmen, die drei Kernaussagen der befragten Frauen so zusammenzufassen: „Ich wäre gern so tolerant wie sie. Ich wäre gern so mutig wie sie. Und ich will auch nach Berlin.“ Ein Rollenmodell also, das David Safier als „Stehaufmädchen“, die aus ihren Krisen lernt, charakterisiert. Hinzufügen darf man, dass Lolle zudem ein dezidiertes Anti-Luder-Programm verfolgt. Nichts ist ihr fremder als Zynismus. Was unglamourös ist. Aber vollkommen okay.

Vielleicht bezeichnet das den Punkt, an dem auch mittlere Jahrgänge andocken können. Nicht, dass sie ihre Jugendlichkeit verlängern wollen; aber wer will sich nicht gerne darin bestärken lassen, die Irrungen und Wirrungen der jungen Jahre im Nachhinein als sinnvoll anzusehen. Wenn man der charmanten Verwirrtheit von „Berlin, Berlin“ zuguckt, kann man das. Von Nostalgie ist dieser sympathisierende Blick sicherlich nicht frei; würde wohl aber auch niemand behaupten.

Bleibt noch der Punkt Berlin. Auch wenn der Hackesche Markt einen zentralen Blickfang im Vorspann ausmacht, ist doch erstaunlich wenig toughes Mitte und erstaunlich viel freundliches Kreuzberg in dieser Serie. Berlin-Hype 1999 hin, Berlin-Depression 2002 her – Berlin ist hier etwas, was es bereits vor dem Regierungsumzug war: keine Weltwichtigkeitsstadt, aber eine schöne und vor allem auch schön große Bühne für das je individuelle Selbstverwirklichungstheater ihrer Bewohner. Mit allen Nervereien, die das mit sich bringt. Auch das hat etwas Nostalgisches. Aber es ist vielleicht genau das Berlin, das man als Projektionsfläche braucht.

Zum Schluss noch dies: Lolle ist mittlerweile so sehr Berlinerin geworden, dass das Drehbuch sie bald für eine Doppelfolge wieder zurück nach Malente schicken wird. Auch da, so lernen wir, geht es schräg zu. Ein bisschen Kreuzberg steckt eben längst in der Provinz.