die jazzkolumne
: Annäherungen zwischen Klassik und Jazz

Variationen über Schablonen

Adorno hasste das Protestimage des Jazz, weil der Jazz die amerikanischen Schwarzen in die Schranken kollektiver Identität verweise. „Der Jazz ist schlecht“, schrieb er in den Fünfzigerjahren. Gegen diese, wie er sagt, „arrogante Haltung“ Adornos wendet sich heute der Komponist Pierre Boulez, doch auch ihm ist der Jazz nicht radikal genug. Der Jazz habe ein Problem, so der Maestro, weil er hauptsächlich improvisierte Musik sei. Um aber kollektiv improvisieren zu können, brauche man Schablonen, und bis auf wenige geniale Ausnahmen, die es unter den Jazz-Musikern durchaus gibt, sind die Schablonen halt immer da.

Boulez behauptet nun, dass seine, ja, „unsere Musik“ immer gegen solche Schablonen gewirkt habe, seit Ende des 19. Jahrhunderts. „Diese Revolution hat in unserer Musik längst stattgefunden, während man im Jazz immer noch Variationen über Schablonen spielt.“

Während Boulez Jazz, im Unterschied zur „gedachten“ Musik, bestenfalls als Gebrauchsmusik gelten lässt, hat der Komponist und Dirigent Peter Eötvös, der Ende der Siebzigerjahre von Boulez nach Paris eingeladen wurde und 13 Jahre lang das Ensemble Intercontemporain dirigierte, einen ganz anderen Zugang zur improvisierten Musik. Außerhalb seiner beruflichen Tätigkeit hört er ausschließlich Jazz. „Diese Musik zu hören gibt mir das Gefühl, dass ich irgendwie vorwärts komme.“

Eötvös’ Beziehung zum Jazz begann in den Sechzigerjahren, damals noch in Ungarn, mit Miles Davis. Von den Westinformationen weitgehend abgeschnitten, blieb das Kurzwellen-Radio die bevorzugte Quelle – und das zu hören bedeutete immer auch, etwas Verbotenes zu tun. Da gab es nicht nur die politischen Sendungen der Voice of America, sondern eben auch viel Ami-Jazz. Seit seiner Kindheit verbindet Eötvös nun Jazz und die typischen Zischgeräusche des KW-Radios mit einem tiefen Gefühl von Freiheit. „Da kommt meine Jazzliebe her, Sonny Rollins, Wayne Shorter, Miles Davis. Beim Komponieren denke ich sehr oft an Jazz – ich bin da sogar sehr vom Jazz beeinflusst, auch wenn man es nicht direkt hört.“

In dem gerade erschienenen Buch „Träumen Sie in Farbe“ (Zsolnay) äußert sich der diesjährige Adorno-Preisträger Györgi Ligeti nicht nur sympathisch ungehalten über Adorno, er bezeichnet ihn als „genial und dumm“. Ligeti besteht aber ebenso deutlich auf der Trennung zwischen autonomer Kunst und Kommerz. Ligeti, der im nächsten Monat 80 wird, wurde einem größeren Publikum bekannt, als Stanley Kubrick seine Musik für die Filme „Odysse im Weltraum“ und „Eyes Wide Shut“ benutzte.

Die englische Pianistin Joanna MacGregor sagt nun, dass sich gerade die zeitgenössischen Musiker wesentlich radikaler orientieren sollten. Aus der Perspektive einer klassischen Musikerin kritisiert sie die Musikindustrie dafür, dass sie in ihrer Angst vor der Überalterung und dem damit drohenden Verlust ihres Publikums die Flucht in das Easy Listening-Format angetreten hat.

MacGregor plädiert für die Unabhängigkeit der Künstler. Um ein junges Publikum zu erreichen, ist ein Cross-over zwischen den Genres angezeigt, der nicht weich gespült, sondern radikal und selbstbewusst daherkommt. MacGregor selbst hat mit so unterschiedlichen Dirigenten und Komponisten wie Pierre Boulez und John Adams gespielt. Auf ihrer aktuellen CD „Neural Circuits“ dirigiert und interpretiert sie sehr eigenwillig Kompositionen von Arvo Pärt und Olivier Messiaen, neben Standards von Bach und Cage tritt sie aber auch mit Weltmusikkünstlern wie Nitin Sawhney, Talvin Singh und Jin Xings chinesischem Tanztheater auf. Auf ihrer aktuellen CD „Play“ (Enja) spielt MacGregor präpariertes Klavier, nutzt elektronische Verfremdungen und Mehrspuraufnahme, und bei ihrer Version von „Libertango“ hat sie die Stimme Piazzollas in die Aufnahme integriert. Für die Anfangvierzigjährige hat Adorno keinerlei Relevanz mehr. Jazz ist für sie ein radikaler, antirassistischer und konstruktiver Ausdruck, der sich der ideologisierten Trennung von Kunst und Kommerz entzieht. CHRISTIAN BROECKING