1000 n-e-u-e Dinge …

… die man bei Schwerelosigkeit tun kann: Fenster putzen zum Beispiel oder sich auf Partys einschmuggeln, oder Mao-Gedichte lesen. Bei Judith, ihres Zeichens Textredakteurin bei einem Hausfrauen-TV-Magazin, ist allerhand möglich. Ein Vorabdruck

von JENNI ZYLKA

1. Kapitel. In dem Judith sich vorstellt, ihre Wohnung kurzzeitig für einen Tatort hält, einen Liebhaber fast vergessen hat, über ihren Job lästert und zusammen mit ihrem Lieblingsmoderator bei einem Beach-Boys-Stück mitsingt

Au Backe. Bei mir wurde eingebrochen. Als ich heute Nachmittag nach Hause kam, war die Wohnung leer geraubt: Anstatt der Schneisen, die man normalerweise zwischen die Papier- und Textilberge, die Gläser, Keksdosen und den Plastiknippes schlagen muss, um zum Beispiel zum Bett oder zum Schreibtisch zu gelangen, ist der Teppich freigeräumt. Er ist blau, der Teppich, das hatte ich schon ganz vergessen. Doch wo sind meine Sachen? Keine Berge, keine Endmoränen, keine Schneisen, nur Schränke, Bilder, leere Stühle. Ich überlege kurz, gucke in die Büroecke, wo der fiepende Computer hockt, registriere die ordentlich auf Regalen abgelegten Papierstapel, schaue in die Schränke, die mit von Zauberhand zusammengefalteten Pullovern, Pullundern, T-Shirts und Röcken gefüllt sind, und entscheide: doch kein Einbruch.

Da fällt es mir wieder ein. Ich habe die Wohnung am Morgen mit einem Mann drin verlassen. Einem netten, am Abend vorher aufgelesenen, um die Mitte herum behaarten Mann in meinem Alter. Ich hatte ihm erlaubt, nach meinem Aufbruch noch etwas zu bleiben, normalerweise vertraue ich Menschen, mit denen ich eine leidlich heiße Nacht verbracht habe. Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass ausgerechnet ich den einzigen Damenhöschendieb meiner Generation kennen lerne. Aber wer kann schon ahnen, dass so einer einen amtlichen Putzfimmel hat? Und einfach bei mir aufräumt, ohne dass ich ihn dafür bezahle?!

Ich gucke schnell in der Küche nach – der Mann hat auch abgespült. Er hat sogar diese Wundertücher gefunden, die mir lieber Besuch aus Hamburg neulich geschickt hat, nachdem er wieder zu Hause war: Mit dem Wundertuch in der ausgestreckten Hand stellt man sich laut Gebrauchsanweisung einfach in die Mitte eines staubigen Zimmers, dann kommt der Staub von selbst angeflogen und setzt sich auf den Lappen. Man nennt das „antistatische Staubanziehung“ oder so ähnlich. Ich hab’s nie ausprobiert, bei dem Mann von letzter Nacht scheint’s aber funktioniert zu haben – die Wohnung ist staubfrei. Gleichsam asthmatikergeeignet.

Wie soll man auf so etwas reagieren? Soll man beleidigt sein oder erfreut? Ich entscheide mich (auch wegen der nicht unangenehmen körperlichen Vorfälle der Nacht) für eine positive Rezeption und freue mich darüber, mal wieder eine Wohnung mit so vielen Sitzmöglichkeiten zu haben. Dass meine Wohnungen immer so unaufgeräumt sind, liegt vor allem an meinem Sammeltrieb. Den habe ich von meiner verstorbenen Oma geerbt, einem gutmütigen und rüstigen pommerschen Kriegsflüchtling. Meine Oma pflegte alles, was nach dem Mittagessen auf der Tischdecke übrig blieb, Krümel, Flusen, abgeschnittene Fingernägel und so weiter, in einer Blechdose mit der Aufschrift „Paniermehl“ zu sammeln. Eine Angewohnheit, deren subtile Sparsamkeit, gepaart mit anarchistischer Geschmacksverachtung, mir erst in späteren Jahren bewusst wurde und dazu führte, dass ich mich weigerte, bei ihr irgendetwas anderes als Hefeklöße zu essen. Die Dinge, die ich heute sammle, unterscheiden sich natürlich von dem Paniermehl meiner Oma: Bücher, Schallplatten, CDs, Videofilme (ich archiviere alle Spielfilme, in denen Kontaktlinsen oder Brillen eine Rolle spielen), ganz bestimmten Nippes und Atomiumbilder und -modelle. Das größte ist 45 Zentimeter hoch und aus Aluminium, ein Prachtexemplar. Ich hatte es schon länger nicht mehr gesehen, aber nun steht es wieder in der Ecke neben dem Plattenregal und glänzt. Und während ich mich darüber freue, überlege ich, ob der Putzmann und ich eigentlich Telefonnummern ausgetauscht haben. Man könnte ihn ja noch mal anrufen, wenn es wieder dreckig ist … Ich kann mich aber nicht mehr erinnern.

Wir hatten uns am Abend vorher bei einer Privatparty in Friedrichshain kennen gelernt, ich gehe manchmal einfach hinter angetrunkenen Menschengruppen her, die nach Fete aussehen, und bin auf diese Art schon in den lustigsten Hinterhauswohnungen gelandet. Man muss sich nur im richtigen Augenblick in das Gespräch einschalten. Meistens glaubt dann jeder, man kenne einen der Beteiligten. Auf dem Fest selbst begegnet man eventuellen fragenden Blicken mit einem „Christian/Markus/Klaus/Stefan hat mich eingeladen!“, und normalerweise sind alle zu lieb, um einen wieder rauszuschmeißen. Als ich neu in Berlin war, habe ich mich hin und wieder sogar in WGs zum Zimmerangucken einladen lassen, nur weil es dort meistens Kuchen oder Kekse gab. Man schaute kurz in irgend so ein Sechzehn-Quadratmeter-Zimmer mit Kohleofen und durfte sich dann an den großen Küchentisch setzen und Danish Buttercookies oder Christstollen stopfen, während die WG versuchte, einen „besser kennen zu lernen“. Nie hätte ich wirklich daran gedacht, dort einzuziehen. Ich mag das Zusammenwohnen mit anderen Menschen überhaupt nicht.

Die Party gestern, auf der ich den Putzmann traf, war eindeutig eine WG-Party, allerdings eine nette, mit Lichterketten im Flur, Bierflaschen in der Badewanne und einem echten, schon sehr zerrupften Käseigel in der Küche. Der Putzmann und ich hatten uns um die beiden letzten Spießchen mit dunklen Weintrauben gestritten und waren nach kurzem Vorgeflirte schnurstracks erst in den Schmuseraum und dann zu mir nach Hause marschiert. Ich bin 45, ich habe nicht die ganze Nacht Zeit, das sind meine Argumente in solchen Fällen. Eigentlich bin ich zwar erst 35, aber so kommt man meistens billig an ein paar Komplimente: „45? Du siehst aber wirklich jung aus!“. Viel einfacher, als es anders herum und sich jünger zu machen und dann wie eine weise, greisenhafte 25-Jährige zu wirken. In Sexdingen lange fackeln kann man sich jedenfalls bei einer jeden Augenblick ans Aufhören denkenden Libido nicht mehr leisten. Wer weiß, wie lange man überhaupt noch ready, willing and able ist. Heutzutage gucke ich schließlich manchmal morgens in den Spiegel und sehe aus wie eine drogenabhängige Japanerin. Quasi Yoko Ono.

Eigentlich sehe ich überhaupt nicht japanisch aus, sondern recht nordeuropäisch: Die Augen muss ich nachstricheln, damit man weiß, wohin man im Gesicht gucken soll. Den Mund glücklicherweise nicht, der ist groß genug und sieht mit etwas Phantasie ungefähr aus wie der Mund auf dem Wrigley’s-Piktogramm-Papierchen, das man früher immer nach Amerika schicken musste, damit ein armes Kind einen Rollstuhl bekommt. Meine Haare sind das Gegenteil von amerikanischem „big hair“: papierdünn und kinnkurz und braun mit Rotstich. Sozusagen „very small hair“. Nur um meine Hautfarbe beneiden mich bestimmt die Yoko Onos dieser Welt: Die entsprechende Make-up-Nuance heißt „Sheep“. Schafsweiß. Aber auch das hat sein Gutes. Man kann immer behaupten, einem sei schlecht und man müsse nach Hause.

Dem Putzmann aus der Nacht gefiel’s. Wir waren natürlich recht angetrunken, als das Taxi vor meinem hässlichen Haus mit dem schönen Ausblick hielt. Nachdem ich ihn nach oben dirigiert hatte, schüttete ich ein paar Wodkareste zusammen und nahm seine semilustigen Bemerkungen über meine voll gestellte Fan-Man-Wohnung (Bist du gerade eingezogen, hat deine Putzfrau Urlaub?) nicht weiter ernst. Und jetzt steh ich hier, und alles glänzt. Na ja, hätte schlimmer kommen können.

Eigentlich passt es mir sogar ganz gut, mit einer sauberen Wohnung im Rücken in die neue Arbeitsfortnight zu starten. Ich arbeite zwei Wochen im Monat am Stück für eine Fernsehfrühstückssendung. Sie ist der Hit für Hausfrauen, läuft in einem Privatsender und in direkter Konkurrenz zu richtigen Sendungen mit richtigen Inhalten. Die Show heißt „Morgenstund“, und ich bin die Textredakteurin. Das klingt, wenn ich es in einer Clique medieninteressierter Heißspornstudis sage, immer ganz imposant, ist aber leider in Wahrheit ein Schweinejob. Ich bin dafür verantwortlich, dass alles, was in der Sendung gesagt, vor- und abgelesen oder auswendig dahergeleiert wird, in Ordnung geht. So eine Art Wortinstanz. Da unsere beiden Moderatorinnen Gina und Ina weder sprachlich noch sonst besonders gewandt sind, habe ich eine Menge zu tun.

Immerhin habe ich bei der Arbeit meinen besten Freund kennen gelernt: Franz ist bei der „Morgenstund“ der Chief Technical Engineer Boss Hoss oder wie man das heutzutage nennt, er muss sich um alles kümmern, was an technischem Schnickschnack falsch laufen kann. Abgesehen davon ist er ein leidenschaftlicher Fußballfan. Er setzt sich ab und an sogar trotz seiner vierzig Jahre mit einem blau-weißen Schalkefähnchen und seinem Schalkeschal um den dünnen Hals vor das Radio, wenn seine Mannschaft mal wieder verliert, und feuert sie mit Einmannskandierungen an: „Wir sind die schönsten Jungs aus dem Ruhrgebiet!“ oder „Wir sind Schalker! Und ihr ni-hicht!“. Abgesehen davon ist er schwul und steht auf heterosexuelle Fußballer. Und abgesehen davon ist er eben mein engster Freund und vor einiger Zeit ins Hochparterre meines hässlichen Sechzigerjahreneubaus gezogen, und nun machen wir manchmal „Battle of the Hifianlagen“ über die geöffneten Fenster. Wir haben einen ähnlichen Musikgeschmack. Auch darüber, wie eine Wohnung als solche auszusehen hat, stimmen wir überein. Wir mögen es schmuck- und vor allem stucklos. So wie unser Haus: Das hat so gar keinen Gründerzeitcharme wie viele Häuser in Berlin-Kreuzberg, sondern ist purer Frühe-Sechziger-Billig-Neubau. Wenn ich Stuck will, dann gehe ich in eine der zahllosen Kneipen der Gegend, die das Zeug täglich mit einer weichen Babyzahnbürste kosen. Ich brauche so etwas nicht und schüttele stets den Kopf über meine Freunde, die Umzugsberichte mit „Eine soo tolle Wohnung! Altbau, Stuck, Parkett!“ beginnen. Auch mit Parkett kann man mich jagen, ich hab’s gerne fußwarm.

Und jetzt kann ich wieder über meinen blauen, fußwarmen Teppich schlurfen, den der ordentliche Eine-Nacht-Steher so schön gesaugt hat. Es ist der Samstag vor den nächsten vierzehn Arbeitstagen. Das heißt, heute Abend muss ich mich zusammenreißen und ein paar Brillenfilme sortieren oder endlich meine Mao-Biographie zu Ende lesen. Sie ist von Tilemann Grimm, und mit einem solchen Namen kann man eigentlich nichts falsch machen, dachte ich. Allerdings vermisse ich bis jetzt den Hinweis darauf, dass Mao sich nie die Zähne putzte, sondern stattdessen irgendwelche ekligen Wurzeln gekaut haben soll, sodass sein Gebiss stets von einer unappetitlichen grünen Schmiere bedeckt war. Ich gebe zu, dass das bei weitem nicht die wichtigste Information über einen großen Kommunistenführer ist. Aber immerhin bin ich schon auf Seite 149, und nun wird es langsam Zeit. Ich beschließe, morgen aus der Redaktion eine Mail an den Verlag zu schreiben und mich über Tilemann zu beschweren. Leider fängt mein Job nämlich immer schon sonntags morgens an, wenn alle anderen ihren Wochenendkater auskurieren, wenn Pärchen verliebt auf den Flohmarkt schlendern, langjährige Beziehungen sich mal wieder ein Klassikkonzert auf dem Gendarmenmarkt anhören und junge Familien mit dem plärrenden Nachwuchs zu ihren Eltern fahren. Um zehn Uhr muss ich in das Redaktionsbüro, um die Texte für die nächsten beiden Wochen vorzubereiten. Danach habe ich eine Vierzehn-Tage-Schicht von 23 Uhr bis 6 Uhr morgens, außer am Wochenende.

Ich schmeiße mich also in meinen Sessel, lege die Füße auf die blitzblanke rechte Außenkugel des Aluminiumatomiums und lese zehn Seiten Maobio. Dann rufe ich meine Freundin Reintraut an, um mit ihr die letzten veröffentlichten Gedichte Maos über die Schmeißfliegen als Gewürm des modernen Revisionismus zu diskutieren und um ihr von dem Putzmann zu erzählen.

Reintraut hat für beide Themen immer ein offenes Ohr. Sie ist erst 31, kann mit auf dem Rücken festgebundenen Armen und sieben Promille im Blut immer noch jedes Computerproblem lösen, ist lustig wie eine Tex-Avery-Figur, doch hin und wieder auch verzweifelt wie eine texanische Todeskandidatin. Sie findet nämlich keinen Mann, jedenfalls keinen, den sie behalten will, hätte aber gern einen, und manchmal fängt sie aus heiterem Himmel an, darüber zu lamentieren. Worauf ich normalerweise mit dummen Sprüchen über ihren Namen antworte. Reintraut. Wer sich da rein traut. Ha. Jetzt höre ich am Telefon, wie sie sich die Haare rauft (sie hat wilde Locken): Wie machst du das?, fragt sie. Das ist doch wie sechs Richtige: ein netter Mann, der aufräumt! Na ja, sage ich, nett sind sie alle. Und das mit dem Aufräumen ist mir irgendwie doch ein bisschen peinlich. Du Pute, sagt Reintraut, ich wäre so froh, wenn ich überhaupt mal wieder jemanden nach oben locken könnte! Reintraut ist eigentlich eine extrem scharfe Person; wenn man neben ihr geht (sie ist 1,86 Meter), sieht man immer aus wie eine angemietete Schleppenträgerin. Aber sie will nichts lieber als jemanden, der ihr jeden Abend das Bett anwärmt. Und ich vermute, dass die Männer, denen sie mit ihren Locken den Kopf verdrehen möchte, einfach zufällig die falschen sind, die, die das Bett lieber nicht anwärmen, sondern nach dem Akt verlassen. Um sie abzulenken, erzähle ich von den Mao-Gedichten und den Schmeißfliegen. Ich habe gerade ein Computerspiel programmiert, sagt Reintraut aufgeregt, nur mit Insekten! Eine ganze virtuelle Welt voller Kakerlaken, Ameisen und Käfern! Und man muss mit ihnen Armeen bilden, die gegeneinander kämpfen! Die Ameisen sind natürlich am schlauesten. Reintraut ist ganz begeistert und will gar nicht auf meine Anmerkungen zur Kulturrevolution, für die die Ameisen bei Mao stehen, reagieren. Auf der letzten Ebene, erklärt Reintraut, kann man mit den Käfern Familien bilden, die dann kleine Käferkinder kriegen, und damit Punkte sammeln … ach, seufzt sie. Und will wieder über die Einsamkeit einer schönen Käfercomputerspielprogrammiererin reden. Ich aber nicht mehr, ich täusche darum Blasendruck vor und lege auf. Außerdem ist es schon 22 Uhr, da fängt meine Lieblingsmusiksendung im Radio an: „Musik für Nörgler“, mit Doktor Bob. Doktor Bob ist der Moderator, ich höre seine Nachtsendung schon seit ein paar Jahren (immer wenn ich meine Arbeitswochen habe) und bin Fan von ihm. Er hat eine tiefe Stimme, legt nur Hits auf, ist bestimmt sehr groß und sieht toll aus. Kein anderer würde zum Beispiel die nur als Maxisingle veröffentlichte Extended Version von „What I Like Most About You Is Your Girlfriend“ von The Special A.K.A. spielen. Nur der aufregende Doktor Bob. Er kommt aus Niedersachsen oder Schleswig-Holstein, hundertprozentig kann ich das nicht sagen, aber ich höre in seiner Tonlage etwas sehr Norddeutschbodenständiges, einen Schalk, aber auch viel gezügelten Sexappeal. Der Mann ist ein Vulkan, das weiß ich genau. Man muss ihn nur wecken. Irgendwann tu ich das auch mal. Klemme mir ein paar Lieblingsplatten unter den Arm, um ein Gesprächsthema zu haben, fahre einfach ins Radiostudio und werde vorstellig. Aber heute Nacht noch nicht, heute spielt er, während ich mich bettfertig mache, die gesamte B-Seite der Beach-Boys-Platte „Pet Sounds“. Okay, natürlich habe ich die, aber es ist trotzdem nett, wie Doktor Bob und ich zusammen „I Know There’s an Answer“ mitsingen. Das heißt, ich bin mir sicher, dass er auch mitsingt.

Interlude:

Jetzt haben wir bereits fast alle Eckpunkte aus Judiths Leben kennen gelernt: Freunde, Arbeit, Suff. In den nächsten sieben hochinteressanten Kapiteln arbeitet Judith wieder viel bei der schrecklichen Sendung, ärgert Adlige, backt subversive Kekse, brettert auf der Kartbahn ihre bis dato schnellste Runde, disst deutsche Jazzfans, diskutiert mit Franz über Schwule in der Bundesliga und schmiedet den Plan, ein Wochenende in Hamburg zu verbringen, um nebenbei auch noch ihren Lieblingsradiomann kennen zu lernen (er legt dort bei einer Party Platten auf). Wir treffen Judith nach den beiden Arbeitswochen, am Anfang einer Freizeitphase, wieder:

8. Kapitel. In dem Judith sich über die Altersberechnungen von Schauspielern wundert, spontan die Fenster putzt, mit einem Äffchen kuscheln möchte, ihr kleines altes Auto durch die Waschanlage fährt und dabei unter anderem Cream hört

So eine freie Woche gibt einem Zeit, Dinge zu tun, auf die man normalerweise nie Lust hat, aber eigentlich längst mal tun muss. Steuererklärung machen oder Fenster putzen zum Beispiel. Normalerweise putze ich meine Fernster einmal im Jahr, und zwar immer am 30. März, „dem Tag, an dem gewischt wird“. Der 30. März ist nämlich der Tag nach meinem Geburtstag, und ich bin meist so verkatert, dass ich sinnvolle Sachen wie lesen, arbeiten oder rausgehen und Eindrücke sammeln nicht schaffe. Es reicht gerade mal zum Hörspielhören und Fensterputzen.

Übrigens habe ich über die Jahre hindurch festgestellt, dass Geburtstage nur bei normalen Knäckebrotesserinnen wie mir unverschiebbar zu sein scheinen. Andere Menschen müssen sich nicht an so schnöde Absprachen halten. Christopher Lambert-der-Holzkopf zum Beispiel, der ja nun auch nichts dafür kann, dass man das Sequel von „Highlander“ unbedingt „Highlander 2 – Es kann nur einen geben“ nennen musste, aber mich trotzdem schon seit Jahren mit seiner Lobbe (westfälisch für: Gesicht) nervt. „Mit dem rechten hackt er Holz, mit dem linken trägt er’s weg“, hat Franz mal ganz richtig über diesen merkwürdigen Schielblick genannt, der einem Schauspieler doch Rollen wie „Tarzan“ oder ebenjenen ominösen „Highlander“ (was ist das überhaupt für ein Kerl? Wer guckt denn solche Filme?) vergällen sollte. Jener Lambert hat zufällig am gleichen Tag wie ich Geburtstag, das habe ich mal in einem Filmkalender gelesen, aber ist genau zehn Jahre älter. Lustigerweise verringert sich jedoch seit einiger Zeit unser Altersunterschied. Während ich demnächst meinen 36. Lenz feiern werde und Lambert darum eigentlich seinen 46., kommt er mir entgegen: Laut Zeitung ist er in seinem neuesten Film erst 44. Wenn Christopher und ich uns etwas anstrengen, können wir nochmal zusammen unseren Vierzigsten feiern! Aber da sei Gott vor. Lieber setze ich mich mit einer Dose Wodka light unter eine Brücke und zünde alte, herumliegende Espandrillos an, bevor ich unter Christopher Lamberts scheelem Blick Geschenke annehme.

Andere Stars laufen mir allerdings auch davon: Nicole Kidman, diese ätherische Rothaarige, müsste eigentlich laut meines Filmlexikons genauso alt sein wie ich, aber sie schlüpft mir irgendwie nach unten weg und feiert frech erst mal ihren 34. Ich kann mir sogar lebhaft vorstellen, wie Fräulein Kidman auf Fragen nach ihrem Geburtsdatum Antworten gibt wie „Das Datum kann ich leider nicht wissen, das Kätzchen hat’s Kalenderblatt zerrissen“. So eine ist das nämlich. Hoffe, dass sie mir nie schreibt, weil sonst mein Briefkasten bestimmt noch wochenlang nach parfümiertem Briefpapier duftet. Mental note: Auf gar keinen Fall darf ich in der Nähe von Hollywood einen Luftballon mit einer Brieffreundschaftspostkarte losschicken, damit der bloß nicht bei Nicole im Vorgarten landet! Heute habe ich jedenfalls Lust, meine Fenster zu putzen, obwohl noch nicht „der Tag, an dem gewischt wird“ ist. Darum lege ich Putzmusik auf, nämlich eine Calypsoplatte von uralten Calypsosängern, die ständig Themen wie „Zombie Jamborees“, „Ugly Women“, „Coconut Water“ und andere Südseephänomene behandeln.

Dann gieße ich heißes Wasser in meine Füßeschüssel (in Wirklichkeit ist es eine Picknick-Kartoffelsalat-Schüssel, aber mein mangelndes Kochtalent degradiert sie immer nur zur Eklige-Geburtstags-Bowlen-Schüssel, und um meine Freunde auf die Probe zu stellen, nenne ich sie öffentlich eben Füßeschüssel, obwohl ich noch NIE ein Fußbad drin genommen habe, nur hin und wieder Schmutzwasser drin aufbewahre) und fange an, das Wohnzimmerfenster abzuseifen, wobei mir die Jalousien ständig im Rücken herumknattern. Wenn ich mich richtig erinnere, hat meine bis ins hohe Alter rüstige Oma immer Zeitungspapier zum streifenfreien Abtrocknen genommen. Ich knülle also den Kulturteil der taz von gestern zusammen und reibe die Außenseiten mit einem Eminem-Interview trocken, zur Strafe, weil der kleine Mann immer seine Freundinnen verkloppt. Man sollte Künstler, von denen man weiß, dass sie Frauen schlagen, überhaupt nicht mehr unterstützen. Meine letzte James-Brown-Platte habe ich darum auch geklaut, damit der Godfather ja keinen müden Cent davon sieht, und einen Picasso kaufe ich mir gar nicht erst. Nach zwanzig Minuten wünsche ich mir ein Putzäffchen, so eines, von dem mir meine Freundin Tine mal erzählt hat. Sie hatte behauptet, bestimmte Körperbehinderte, zum Beispiel Gelähmte, bekämen von der Krankenkasse (bestimmt privat versichert! Scheißsystem!) ein Äffchen spendiert, irgend so ein kleines, zierliches, keinen Orang-Utan, eher einen Makaken, einen freundlichen Brüllaffen (für Schwerhörige!) oder ein Pinselohräffchen. Diese Äffchen werden von speziellen Äffchentrainern ausgebildet, sie lernen putzen und wischen, also nur mit kleinen Lappen und immer nur kleine Stellen, aber immerhin, und sie gehen den Behinderten zur Hand und holen auf Befehl Bücher, Zeitungen, Zigaretten, natürlich nicht aus dem Laden, sondern vom Tisch, oder ein Kissen. Außerdem setzen sie sich, wenn der oder die Gelähmte es möchte, auf die Schulter, pusten ihm leise ins Ohr und zerwühlen seine Haare. Ich hoffe nur, dass nicht auch Bonobos für diesen verantwortungsvollen Job ausgebildet werden, der Bonobo, das habe ich mal gelesen, ist ja sozusagen der Italiener unter den Affen und vögelt alles, was ungefähr genauso groß ist wie er und nicht sofort schreiend wegläuft. Und ob man als gelähmter Mensch so gerne dabei zuschaut, wenn seine Putzkraft es mit dem Mülleimer treibt … Jedenfalls hätte ich jetzt gerne einen reinlichen Makaken für die Scheiben.

Stattdessen drehe ich die Platte um, wo der uralte Inselschwarze auf der anderen Seite gleich loslegt mit „Mama looka booboo“. Die andere Seite vom Fenster poliere ich dafür mit dem taz-Magazin über ein Ludwigsfelder Kohlekraftwerk, und alles in allem macht Hausarbeit mit Musik doch gleich zehnmal mehr Spaß. Ich lasse ein wenig heiße Seifenlauge in den Hinterhof tropfen und hoffe, dass mich jemand sieht und denkt: „So eine Perle!“ Das hoffe ich auch immer, wenn ich meine Betten zum Lüften aus dem Fenster hänge, eine, wie ich finde, extrem hausfrauliche und gemütliche Geste, eindeutig aus der Gruppe der positiv besetzten Hausfrauengesten, so wie jemandem zu Nikolaus Schokolade in den Schuh tun oder backen.

Mir fallen meine Hamburger Bekannten ein, die nach ihrem letzten Besuch ja Staubtücher geschickt hatten und die ich am Wochenende sehen werde – wenn Doc Bob und ich uns nicht ein extrem verschwiegenes Hotelzimmer teilen, ha, der Sender zahlt! Dann fällt mir sogar kurz der Putzmann ein. Aber nur sehr kurz. Ich überlege noch einmal, ob wir eigentlich Telefonnummern ausgetauscht hatten … hatten wir aber nicht. Nun denn. Werde ich den sauberen Mann eben auf der nächsten WG-Party wiedersehen, wenn es sein soll. Und überhaupt, man sieht ja, was dabei herauskommt, wenn jemand unaufgefordert putzt: Ich fange an, mitten im Sommer die Fenster zu reinigen, obwohl es noch gar nicht an der Zeit ist.

Während ich profimäßig vor mich hin poliere, höre ich Franz, der seinen Kopf aus dem Fenster steckt und hochruft: He, bist du verrückt geworden? Ich tröpfele als Antwort ein wenig mit dem Spülwasser. Es ist doch noch gar nicht „der Tag, an dem gewischt wird“, schreit Franz, oder hast du dir diese Vogelaufkleber für Bürofenster gekauft, und die kleben nur auf sauberen Flächen? Halt die Klappe, rufe ich runter, ich hab jetzt keine Zeit. Muss putzen.

Am Abend fahre ich auch noch den Fiat durch die Waschanlage, damit er mich und Reintraut, die am Telefon ganz begeistert von einem „Damenweekender“ war, am nächsten Tag glänzend nach Hamburg bringt.

Judith hat noch achtzehn Kapitel Zeit, sich darüber klar zu werden, was sie vom Leben möchte und ob und inwiefern das mit Job und Herz zusammenhängt. Aber das wird sie schon schaffen. Jedenfalls gibt’s am Ende einen kleinen Fernseheklat, und außerdem stirbt um ein Haar jemand Nettes.

Jenni Zylka: 1000 neue Dinge, die man bei Schwerelosigkeit tun kann. Rowohlt, Reinbek 2003, 191 Seiten, 7,90 EuroJENNI ZYLKA ist im besten Alter und ansonsten Geheimagentin