Demeters Windspielzeug

Zu Besuch bei einem arbeitslosen Plasmaphysiker

von GABRIELE GOETTLE

Jörg Peter Melior, zurzeit Müller. 1964 Einschulung i. d. Heimatschule Langerwisch bei Potsdam, 1968 Besuch d. weiterführ. Alexander-von-Humboldt-Oberschule in Potsdam. Abitur 1976. Von 1976–1978 Wehrdienst b. d. Deutschen Volksarmee in Lehnitz/Oranienburg. 1978–1983 Studium d. Physik a. d. Uni Greifswald, Schwerpunkt Plasmaphysik. 1983 Diplom. 1983–1990 wissensch. Mitarbeiter a. Institut für Polymerenchemie d. Akademie d. Wissenschaften der DDR (Spezialisierungsrichtung Strukturbildung i. deformierten Polymersystemen). 1990–1993 Übernahme d. Amtes als Bürgermeister d. Heimatgemeinde. Bis z. Jahr 2000 leitender Mitarbeiter i. d. Kommunalverwaltung (Kämmerer). Dann Arbeitslosigkeit. Sonstiges: Ehrenamtlicher Richter am Landgericht Potsdam. Diverse wissenschaftl. Veröffentlichungen in naturwiss. u. internat. Fachzeitschriften zum Thema d. molekularen u. übermolekularen Strukturbildung (u. a. im Verlag Walter de Gruyter, [1986], u. in d. Zs. „Polymer“ [1991]). Patente: u. a. für ein „faserverstärktes Implantat aus ultrahochmolekularem Polyethylen“ u. für eine „Zusatzvorrichtung“ für retrooptische Untersuchungen mit handelsüblichen Mikroskopen. Hobbys: Chorgesang; Denkmalpflege. Herr Melior wurde am 15. 3. 1958 in Caputh bei Berlin/Potsdam als Sohn eines Müllers geboren, der zugleich Bäckermeister war. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

Nach Jahrtausenden des Mahlens zwischen zwei per Hand betriebenen Steinen entwickelten sich in Kleinasien die ersten Windmühlen, sozusagen die ersten Motoren der Welt. Kreuzfahrer brachten sie mit nach Europa, wo sie sich in unterschiedlicher Form ausbreiteten. Bei der im 13. Jahrhundert entwickelten deutschen Blockwindmühle wird das gesamte hölzerne Gebäude mit der Hand um einen Mittelpfosten gedreht, um die Flügel in den Wind zu stellen. Bei der holländischen Mühle, die aus dem 15. Jahrhundert stammt und meist aus Stein ist, wird nur das hölzerne Dach mitsamt dem Flügel zum Wind gedreht. Die Hochphase der europäischen Mühlenkultur dauerte vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, dann brachten Mechanisierung und Industrialisierung radikale Änderungen in der Produktionsweise, Zubereitung und Konservierung von Nahrungsmitteln mit sich. Zusammen mit der Einführung der Gewerbefreiheit und der Handelsmüllerei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bescherten diese Veränderungen den kleinen Landmühlen Konkurrenz und führten zu ihrem allmählichen Absterben. Gewerbsmäßig arbeiteten Windmühlen bei uns bis Ende 1957. Heute gibt es in Deutschland rund 800 Industriemühlen. Sie vermahlen 5,8 Millionen Tonnen Getreide für die menschliche Ernährung und 1,4 Millionen Tonnen Mühlenfuttermittel. Wir Deutschen haben den weltweit größten Brotverbrauch, pro Kopf und Jahr 80 kg. Es gibt ca. 300 Brotsorten, nur 12 Prozent davon sind aus Roggenmehl (das Jahrhunderte lang das Mehl für die Armen war).

Mühlen waren einst magische, zentrale Orte und somit auch Orte der Rechtsentwicklung. Strenge Rechte wie „Mühlenbann“ und „Mahlzwang“ sicherten dem Feudalherren und seinen Nachfahren das ausschließliche Vorrecht zur Betreibung von Mühlen und aller damit verbundenen Erlasse und Maßnahmen. Es gab sogar so etwas Seltsames wie den Mühlenwind als Rechtssubjekt, als Gegenstand eines verleihbaren Rechtes. Und es gab ein Mühlenasyl, das Verfolgten Schutz gewährte. Mühlen wurden zum Stoff für Märchen und Sagen, und Mühlen sind auch ein zentrales Motiv im ersten europäischen Roman. Don Quichottes Kampf gegen die Windmühlen ist bis heute der Inbegriff für die romantische Fehldeutung der Welt und die Vergeblichkeit des Opponierens. Heutzutage wirkt eine alte Mühle mit ihren gemächlich sich drehenden Flügeln und dem leise ächzenden Räderwerk überhaupt nicht mehr bedrohlich, sondern idyllisch. Aber dieser Ort beschaulicher Arbeit war schon von Beginn an eine Maschine auf dem Wege zur Herrschaft der Mechanisierung – wie es Siegfried Giedeon in seinem gleichnamigen Werk nannte. Sie enthielt bereits die Werkzeuge ihrer Selbstabschaffung. In ihr liefen zum ersten Mal moderne Produktionstechniken mit weitreichenden Folgen wie das Förderband und das Becherkettenband, eine Art automatisierter Eimerkette (beides vom Amerikaner Oliver Evans, dem Erfinder der automatischen Mühle, 1783 ausgetüftelt). Das waren die Prototypen fürs spätere Fließband in der Fabrik, das Taylor Anfang des 20. Jahrhunderts mittels Beschleunigung durch Elektromotor und per Stoppuhr gemessenem Arbeitstaktprinzip zum alltäglichen Alptraum für Generationen von Fließband-Akkordarbeitern machte.

Die Mühle von Herrn Melior liegt 30 Kilometer südwestlich von Berlin, in Langerwisch, einem kleinen Dorf mit auffallend schön ausgebauten ehemaligen Ställen und Scheunen für Wohn- und Ferienhauszwecke. Es gibt eine alte Feldsteinkirche in Betrieb, und rings um das Dorf erstrecken sich Obstgärten und Pferdekoppeln. Die Mühle liegt außerhalb des Dorfes. Am Ende eines langen Feldweges steht das Mühlengehöft, ein kleineres Anwesen, alterslos wirkend durch Rauhputzfassade und Modernisierung, nur noch im hinteren Teil etwas bäuerlich, mit Innenhof, Schuppen, Stallungen und altem Obstgarten, in dem der Hund und die Hühner sich vergnügen. Etwa 30 Meter hinter dem Haus, umgeben von Feldern, ragt groß und dunkel die hölzerne Mühle zum Himmel empor. Es ist eine so genannte Paltrockmühle – die Herkunft des Wortes ist ungewiss –, dieser Mühlentyp entwickelte sich aus der Bockmühle und stand früher besonders in den Ostseegegenden, da diese Gebäudekonstruktion weniger anfällig ist, umzufallen bei starkem Wind. Das ganze Mühlengebäude wird auf einem in Terrainhöhe befindlichen Kranz gedreht, je nach Windrichtung. Etwas abseits der großen Mühle steht, was sehr witzig aussieht, eine Bockwindmühle in verkleinertem Maßstab, voll funktionstüchtig und gerade groß genug, dass ein Müllernachwuchs darin Getreide zu Mehl verarbeiten kann.

Herr Melior trägt weiße Müllerkleidung und ist stark erkältet. Vor der Mühle stehend erzählt er: „Dieser Paltrock ist so auf dem technischen Stand von 1930. Sie sehen ja, das Gebäude reicht bis unten hin. Vor 1930 war das auch mal eine Bockmühle wie die kleine dort, und dieser Typ steht ja auf einem Ständer. Die gab’s hier in der Gegend besonders im 17. und 18. Jahrhundert, und bis vor kurzem stand hier in Langerwisch noch der Stumpf einer Bockmühle, in der mein Großvater Müller gelernt hatte bis 1879. Dann hat er sich selbstständig gemacht und eine Bockwindmühle gekauft in Oranienburg, auf ‚Abriss‘ hieß das damals. Sie wurde abgebaut, Stück für Stück, auf ein Schiff verladen, bis nach Potsdam gefahren und dann hierher transportiert und wieder aufgebaut.“ Er deutet auf die Mühlenwand hinter sich, das Holz glänzt schwarzgrau in der Sonne.

„Das war eine bewegende Geschichte, hier war ja nichts, keine Straße, keine Eisenbahn, das ging alles mit Pferdefuhrwerken. Als sie dann endlich stand, ist sie 1894 das erste Mal komplett umgeworfen worden bei einem Sturm. Sie wurde gleich wieder aufgebaut, und dann kam auch das Wohnhaus dazu, und dann ging’s Schritt für Schritt weiter, gleichzeitig war ja eigentlich 1879 bereits das Mühlensterben in vollem Gang. Trotzdem ging es weiter, und 1930, wie gesagt, wurde die Mühle vollkommen umgebaut und modernisiert, um mithalten zu können. Das ging dann eigentlich gut bis in die Fünfzigerjahre – nach dem Krieg gab es sogar noch mal einen Aufschwung, weil ja in den Städten gerade die industriellen Zentren zerstört waren – aber in den Fünfzigern war dann eigentlich die Stoßrichtung, in Ost- und Westdeutschland die kleinen Mühlenbetriebe stillzulegen. Wir im Osten bekamen eben kein Getreide mehr. Wir lagen damit still, und das war natürlich ein unheimlicher Schlag für meinen Großvater und meinen Vater, der damals die Mühle hatte. Sie wollten es nicht fassen, dass nicht mehr gearbeitet werden konnte, obwohl Technik und Qualität absolut stimmten. Und erst Ende der Sechziger ging’s langsam wieder los, aber nur mit Schrotung. Es wurde Tierfutter geschrotet für die private Tierhaltung der umliegenden Bauern hier. In den Siebzigern wurden dann überall in der DDR ja die großen Tierbestände aufgebaut, Schweinemastanlagen usw., auch im Nachbarort, und so war die Mühle für eine ganze Weile wieder voll ausgefüllt, und wir konnten davon leben. Übrigens hatten wir auch noch eine Bäckerei, unten im Quergebäude, sie wurde 1910 eröffnet, als zweites Standbein quasi. Das war die Zeit, als sich die Arbeitsteilung auch auf dem Lande stärker bemerkbar machte und die Bauern nicht mehr selber gebacken haben. In den Siebzigerjahren wurde die Bäckerei dann aber aufgegeben, mein Vater hatte starke gesundheitliche Probleme mit dem Mehlstaub, Bronchialasthma …“ Er putzt sich die Nase, die groß und rot ist. „Ich bin ja praktisch mit der Mühle hier aufgewachsen, aber es gab eigentlich nie die Perspektive, Müller zu werden, dazu war die Mühle zu klein. All die Kenntnisse, die ich gesammelt habe, die fielen natürlich trotzdem nebenbei mit ab, man hat ja mitgetan, mitgebaut, mitgeplant, und so wusste man rundum Bescheid. Die Mühle wurde 1986 als technisches Denkmal unter Denkmalschutz gestellt, aber mit der Wende 89 war erst mal in jeder Beziehung Schluss mit der Mühle. Die nächste Großmühle war dann, ich glaube, in Spandau, drüben im Westen. Angesagt waren jetzt ja die großflächigen Lösungen und Produktionen, mit Logistik und allem, mit weiten Transporten zu Großmühlen. Bei uns im Osten gab es aber zuvor mehr die regionale, kleinteilige Produktionsweise, und die wurde ja ganz schnell stillgelegt. In so einer industriellen Mühle, da arbeiten vielleicht fünf Leute, die machen 500 Tonnen in drei Schichten über 24 Stunden, wir machen, wenn ausreichend Wind ist, in 24 Stunden eineinhalb Tonnen, das sind bis zu 1.500 Packungen Mehl, die ergeben etwa 1.000 zweipfündige Brotlaibe. Wir sind eine fünfköpfige Familie und essen die Woche über etwa 3 Laibe. Also, man könnte die ganze Umgebung im Prinzip versorgen, zumal hier auf den großen Feldern auch noch unbehandelter Roggen wächst, und ich habe nun angefangen, ganz klein natürlich, versuchsweise, hier wieder was aufzubauen. Es ist ja schon ein Spezifikum, diese Art von Bauwerk. Ich habe dazu natürlich eine starke Beziehung, zu dieser Mischung aus Technik und Familientradition. Zu so einer Mühle gehört eben ein Mensch, der sich um sie kümmert. Nun bin ich das geworden. Es hat fast 10 Jahre gedauert, das alles wieder in Gang zu setzen, in Ordnung zu bringen, und immer wieder gibt es Überraschungen, neue Havarien, Reparaturen, Stürme, die mich in Angst und Schrecken versetzen. Voriges Jahr, am 10. Juli, der enorme Sturm, bei dem es ja hier in Berlin auch Tote gab, der ist mir noch heftig in Erinnerung. Es war, als hätte einer den Schalter gedrückt auf volle Stärke. Die Windrichtung wechselte, bevor die Mühle sich drehen konnte, dann kam der Wind genau von der anderen Seite, sodass die Flügel drohten, sich in die falsche Richtung zu drehen, das bedeutet zugleich, dass die Bremse, die oben liegt, nicht greift, weil sie nur in eine Richtung fasst. Dann hat man die Ereignisse nicht mehr unter Kontrolle, entweder es brennt was, weil zu viel Reibung entsteht, es können auch Zahnräder brechen, oder das ganze Gebäude fällt um, denn das sind ja gewaltige Kräfte, die da einwirken, das ist sehr dramatisch. Wir haben es aber mit der Handkurbel geschafft, sie etwas zu drehen. Irgendwann sprang dann das Führungsrad oben an und hat sie automatisch in die richtige Position gebracht, sodass die Bremse wieder funktionierte. Das war sehr knifflig. Man sagt, es gibt so alle 20 bis 30 Jahre schwere Stürme, und den letzten, den ich zuvor erlebt hatte, war der vom 13. November 1972, ich war Oberschüler, es war gigantisch. Noch schlimmer soll es 1953 gewesen sein, da hat es selbst diese Mühle hier mit dem riesengroßen Drehkranz halb umgedreht und aus der Verankerung gedrückt. Die Natur ist nicht immer sanft, und was wir bauen, ist nicht 100-prozentig. In dieser Tradition sind wir aufgewachsen. Allerdings, die Mühle unten, in der mein Großvater gelernt hatte, die stand immerhin von 1709 bis zum vorigen Jahr.“

Wir gehen um die Mühle herum zu den ruhenden Flügeln. Es herrscht Windstille. Hundegebell ist zu hören und ab und zu ein Hahnenschrei. Des Müllers Nase tropft. Mit belegter Stimme erzählt er weiter: „Hier sehen Sie die einzelnen Klappen der Flügel, die wie bei einem Jalousienmechanismus untereinander verbunden sind und über eine Zugstange nach Bedarf verstellt werden können. Der Mechanismus führt oben durch die Welle nach innen, also genau durch den Kreuzungspunkt der Flügel. Innen ist dann so ein entsprechender Umlenkmechanismus. Unten wird an einer Kette gezogen, das ist mit ein paar Handgriffen gemacht. Die Lamellen sind aus Pappelholz, und der eigentlich Flügel ist aus Lärchenholz. Lärche ist zäh und wetterbeständig. Ansonsten besteht die Mühle übrigens aus ganz normaler Kiefer, dem Holz unserer Gegend hier, und drinnen sind einige wichtige Teile aus Eiche. Also, die Flügel hier sind, beide Teile zusammengenommen, 21 Meter lang. Erfahrungsgemäß bewegen die sich in vier Sekunden etwa einmal herum, die günstigste Windgeschwindigkeit sind 5 bis 6 Meter pro Sekunde. Wenn sich die Flügel drehen, wird ja ein ungeheurer aerodynamischer Druck aufgebaut und wirkt auf das Gebäude ein. Man hat lange Zeit nicht verstanden, warum diese Dinger eigentlich funktionieren, also empirisch, Jahrhunderte wurde drüber nachgedacht, rumgefummelt, um es besser zu machen. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es die ersten Experimente, und die haben ergeben, wie’s geht. Der Flügel dreht sich und verlangsamt den 21 Meter dicken Luftzylinder, der da jetzt ankommt, ein wenig, also umgekehrt heißt das, der Druck, der aufgebaut wird, wird nicht nur gebildet aus der Breite und Länge der Flügel, sondern aus der gesamten Fläche, die die Luft durchschneidet und durchquirlt. Da entstehen riesige Kräfte von mehreren Tonnen, die oben drücken, und die Flügel müssen die Kraft natürlich weiterleiten. Es gibt hoch belastete Teile, die das aufnehmen und ans Fachwerk weitergeben, bis es dann insgesamt aufgenommen wird vom Gebäude. Drinnen fühlt man die Schwingungen und merkt, dass es um Kraft geht und nicht nur um harmonische Umdrehungen. Bei starkem Wind muss man aufhören, ich kann aber durch den Klappenmechanismus einen Großteil der Energie einfach durchlassen, arbeiten kann ich eigentlich noch bei 6 bis 8 Meter pro Sekunde. Von außen hören sie übrigens nicht viel, nur so ein aerodynamisches Rauschen, aber innen ist es natürlich laut. Zur Not können wir auch mit Strom arbeiten.“

Dann deutet er zur kleinen Mühle, die dasteht wie das Küken einer Henne. „Die ist übrigens aus Paritz bei Ketzin. Das ist eine traurige Geschichte. Dort gibt’s auch eine Bockwindmühle, und der Müller hat seinem Sohn 1938 diese Mühle gebaut, damit der Geschmack am Müllerberuf bekommt. Der Sohn ist dann im Krieg gefallen, noch bevor er Müller werden konnte. Später ist sie umgesetzt worden nach Fahrland. Der dortige Müller war alt und hatte keine Nachkommen, er hat sie 1968 an uns weitergegeben. Ich war gerade 10, das war ganz prima, damit konnte man wunderbar den Müller machen. Ricke-racke, ricke-racke, wie bei Wilhelm Busch. Die Schulklassen heute sind immer ganz begeistert, wenn ich sie zeige.“

Über die hölzerne Laderampe betreten wir die Mühle. Es riecht nach Holz und Mehl, schräg fällt das Licht durch ein kleines Fensterchen und streift ein paar zugeschnürte weiße Säcke. Wir steigen hinunter in den Keller, in dem man aufrecht stehen und sehen kann, wie die Paltrockmühle funktioniert. Das runde, wannenförmige Fundament trägt einen Rollenkranz aus gebogenen Eisenbahnschienen, in denen laufen 40 gusseiserne Rollen, die wie ein Drehkranz funktionieren und so das ganz oben auflastende Gebäude drehbar machen. Ein kräftiger Mittelpfeiler nimmt die Last mit auf und hält das Gebäude stabil. Mittels raffinierter Übertragung durch Zahnräder oder Zahnstangen und Stirnräder geschieht das Nachführen der Mühle nach der Windrichtung von ganz alleine, ausgelöst durch Bewegung des dafür zuständigen Windrades auf dem Dach. Das springt jeweils an, wenn die Windrichtung sich ändert.

„Alles das, die Treppe, die wir runtergekommen sind, die Rampe, das ganze Gebäude über uns“, sagt Herr Melior, „ist frei hängend und drehbar. Es kann also vorkommen, dass man abends zu Bett geht, und die Mühle steht in diese Richtung, und morgens findet man sie in einer völlig anderen Richtung vor. Das gab es bei der Bockwindmühle nicht, die musste ja per Hand gedreht werden und hatte deshalb auch keinen Keller. Hier hingegen wird der Antrieb der gesamten oberen Maschinen bereits von unten her organisiert, deshalb können wir – im Unterscheid zur Bockmühle – bereits auf der ersten Ebene oben arbeiten. Ein Riesenvorteil! Hier sehen sie die gusseisernen Kegelzahnräder, die mit eingelegten Holzzähnen angetrieben werden – man braucht keine eingelegten Ölbader, und sie sind einzeln austauschbar, die könnte ich selber schnitzen! Das sind natürlich interessante Details, die Maschinenbauer frohlocken lassen. Und diese Becherkettenbänder oder Elevatoren, wie wir sagen, haben die Aufgabe, die Förderung des Mahlgutes nach oben zu besorgen, was früher viel körperliche Arbeit war. Hier unten sehen sie den Umlaufpunkt, die Becher kommen leer an, das Getreide läuft rein, und sie fahren gefüllt wieder nach oben. Da werden sie dann über einen Umlenkpunkt so schnell und energisch geführt, dass sie ihr Schüttgut praktisch wegwerfen, damit es da hineinfällt, wo man es gerade haben will. Die Mühle ist so konzipiert, dass alle Hebeprozesse mechanisiert sind, also ‚automatisch‘ funktionieren, das war so eine Begriffsbildung von damals, der Begriff wird heute vollkommen anders verwendet.“

Wir steigen die hölzernen Treppe hinauf in die erste Ebene. Herr Melior zeigt auf die hölzernen Schächte, in denen die Becherwerke sind. Durch eine kleine Klappe lässt sich der Lauf kontrollieren. Die beiden nebeneinander liegenden Mahlwerke sind holzverkleidet, sodass man die Größe der Mahlsteine nur ahnen kann. Unterdessen ist die Sonne gewandert und bescheint einen Vogelflügel, der am Boden liegt.

„Nein, der ist von keiner toten Taube übrig geblieben, das ist ein so genannter Flederwisch, ein Entenflügel, mit dem man seit alters her ein bisschen die Ecken und Ritzen ausfegt. Und neben dem Eingang dort haben wir so ein abgeschlagenes Kabüffchen. Da hatte der Müller meist eine Pritsche drin und ein Öfchen, denn wenn gearbeitet wurde, dann ging’s ja Tag und Nacht, im Sommer und im Winter. Da drin sehen Sie auch den Strick, mit dem sich oben die Bremse lösen lässt für die Flügel.“

Herr Melior zeigt uns ein Häufchen Roggen in seiner hohlen Hand: „So wird er hier angebaut, er ist nicht besonders gut geworden. Daraus nun ein wirkliches Lebensmittel zu machen, das ist die Kunst des Müllers und der Mühle. Zuerst wird es gereinigt, es geht im Becherwerk hoch unters Dach, fällt in eine Maschine, dort werden in einem starken Luftstrom alle leichten Bestandteile weggepustet beziehungsweise -gesogen, dann geht alles in ein Siebwerk, das große Bestandteile wie Erbsen und Steinchen zurückhält, und ein ganz feines Sieb sorgt dafür, dass der Sand durchfällt. Ein Problem sind dann noch die Wickensamen, die rund sind und weder durch Luft noch durch Siebe zu entfernen sind. Sie müssen aber raus, denn sie sind bitter und sehr dunkel. Und da gibt es eine ganz raffinierte Maschine, den Trieur, eine Formauslesemaschine, die Längliches vom Runden unterscheidet – die gab es schon im 19. Jahrhundert –, sie arbeitet mit einem einfachen physikalischen Effekt: Das Getreide bewegt sich durch eine waagerecht stehende Trommel, in der Löcher in der Größe der Körner eingeprägt sind. Wird das Ganze dann mit einer gewissen Geschwindigkeit gedreht, so lagern sich runde Teile oben in einer Mulde ab, während die normalen Körner vorher runterfallen. Er gibt die Roggenkörner wieder in den Sack und bindet ihn zu.

„Eine gute Reinigung ist das A und O. Danach kommt das Getreide in ein Schlägerwerk, wird an eine Schmirgelwand geworfen mit hoher Geschwindigkeit, sodass ein Teil der Schale entfernt und gleich mit einem Gebläse rausgezogen wird. Danach wird es auch noch gebürstet und poliert, damit es schön glatt und sauber ist, erst dann hat es eine Qualität, von der man sagen kann, es ist ein Lebensmittel. Diese komplizierten Sachen bewegen sich alle hier von diesem Teil der Mühle aus. Nun haben wir also das Ausgangsprodukt, es wird gewogen, um zu sehen, was nach der Reinigung vom Gewicht abgegangen ist. Erst dann geht das Getreide hier in die eigentlichen Vermahlungsmaschinen. Es fährt in den Becherwerken nach oben und kommt hier in diesen Sammelbehältern an. Die haben innen zwei Kammern, denn man hat ja nicht nur einen Prozess zu bewerkstelligen, also einmal schroten, einmal mahlen, sondern das Getreide muss mehrfach von einer Behälterseite in die andere gebracht werden, bis es immer feiner vermahlen ist. Zwischendurch wird immer wieder das bereits Feine herausgesiebt, also das, was schon Mehl ist. Das Roggenmehl hat beim ersten Auszug eine schneeweiße Farbe, erst später wird es etwas dunkler. Wir haben etwa 10 Durchläufe, und bei jedem Durchlauf wird Mehl abgezogen, am Schluss bleibt die Aufgabe, das alles wieder zu vermischen. Das ist bei solchen Mengen eine durchaus anspruchsvolle Aufgabe. Man hat dafür hier diese praktische Maschine, sie reicht bis in die nächste Etage, in der Mitte ist eine Schnecke eingebaut, die durchmischt alles, dann kommt es hier wieder an. Die Maschine ist also zugleich, kann man sagen, Mischer und Silo. Da drin ist das Mehl erst mal geschützt. Normalerweise geht es dann auch bald wieder raus aus der Mühle und wird abtransportiert. Und bei alldem kommt es natürlich auch auf die Mahlwerkzeuge an. Es darf sich ja nichts erwärmen beim Mahlgang, das würde das Mehl verschlechtern. Diese Steine mussten wir aus Holland holen. Sie haben 1 Meter 40 im Durchmesser. Der untere heißt Bodenstein und hat seine Mahlfurchen und Luftfurchen, der andere heißt Läuferstein. Der arbeitet kopfüber dagegen und wird durch ein mechanisches Werk so geführt, dass er in geringem Abstand sich bewegt“.

Wir steigen über eine schmale Holztreppe hinauf auf die nächste Ebene. Hier sehen wir nun die ganzen Behälter, die oberhalb der Maschinen sind. Das Holz ist neu und hell. Hier sieht man auch die Antriebe für die breiten Ledertreibriemen, diese Riemen durchqueren die Etagen durch stark abgeschliffene Schlitze im Holzboden. „Ich habe die Riemen jetzt runtergezogen“, sagt Herr Melior und streicht über die dicke, schwartige Rinderhaut, „weil sie momentan nicht gebraucht werden. Einige sind schon sehr alt, der große hier zum Beispiel. Neue zu beschaffen ist ein Problem, das Leder ist nicht mehr so gut, und bis sie sich eingelaufen haben und in der Länge genau stimmen, vergeht eine Weile. In der Zeit muss man ständig alles anhalten, kürzen, neu spannen mit den Riemenverbindern. Aber wenn dann alles stramm sitzt und sich dreht, das ist wirklich ein gutes Gefühl, da ist was los! Viel Staub entsteht übrigens gar nicht mal, denn in der Mühle gibt es einen sehr wirksamen Entlüftungsmechanismus. Eine so genannte Aspiration wurde eingebaut, die einen Unterdruck erzeugt, der bis in die Maschinen und Behälter hinein wirksam ist. Sie hat einerseits die Aufgabe, dass Mehlstaub in die Maschine zurückgezogen wird, und andererseits hat sie eine Kühlfunktion, was ja besonders beim Stein wichtig ist. Ein dritter Aspekt ist der Abtransport der Feuchtigkeit, die beim Mahlprozess freigesetzt wird. Das ist eine Menge, bei 1.000 Kilo sind das 20 Liter Wasser, die da irgendwo bleiben müssen. Man kann, wenn das alles arbeitet, hier richtig spüren, wie ein Lufthauch durch die ganze Mühle durchgeht, ganz stetig.“

Wir steigen auf schwankender Treppe in die nächste Ebene hinauf. Hier oben sind die ganzen Reinigungsmaschinen, das Gebläse, alle Siebe und der Trieur. Die Sonne fällt auch hier schräg ein und trifft gerade ein Ölkännchen, das aufleuchtet, als wäre es aus mattem Gold, daneben liegt ein scharf konturiertes, ausgemustertes Zahnrad. Weiter hinten im Halbdunkel ist das gewaltige Kammrad zu sehen mit seiner Welle, die aus einem unglaublich mächtigen alten Baumstamm besteht und sich quer durch den Raum erstreckt. Durch diese Flügelwelle hindurch führt übrigens die Zugstange, mit der sich die Lamellen außen am Flügel verstellen lassen. Hier oben nun haben wir den Mechanismus vor uns, mit dem alles verbunden ist, die vielen Zahnräder, Übertragungsräder, die gusseisernen Kegelzahnräder mit ihren Holzzähnen im Keller, die Treibriemen, Rüttler, Siebe und Mühlsteine, hier wird alles in Gang gesetzt, wenn außen sich die mit Rad und Welle verbundenen Flügel drehen. All das scheint hier nur darauf zu warten, endlich wieder ineinander zu greifen, einander die Kraft zu übertragen, gnadenlos das Korn zu zermalmen. Herr Melior führt uns unter der Flügelwelle hindurch und zeigt auf den Bremsmechanismus, eine große, gewölbte Holzkonstruktion mit Einkerbungen, die fast über der ganzen oberen Hälfte des Rads liegt. „Normalerweise ist das Rad ja frei“, sagt Herr Melior, „das ist jetzt nur zur Sicherung, wenn kein Betrieb ist. Und diese Bremse kann ich also unten vom Kämmerchen aus mit dem Strick – der läuft hier über eine Kette – betätigen. Sie wird dann entweder freigegeben oder umgekehrt, dann drückt der Balken mit seinem ganzen Gewicht wie eine Bremsklaue auf das Rad und setzt es fest. Aber es funktioniert eben nur in die eine Richtung, wie ich vorhin erzählt habe.“

Herr Melior fröstelt und hustet. Wir verlassen die Mühle und verharren auf dem Weg zum Haus kurz vor einem Schuppen, an dem zwei ausgediente Mühlsteine lehnen. „Das ist ein bemerkenswertes Steinpaar“, erklärt er, „es ist aus einem Material, das erst im 19. Jahrhundert nach Deutschland kam. Man benutzte Sandsteine, Basalt usw. Hier, dieser Stein ist ganz anders, er hat besondere Eigenschaften. Dieser Süßwasserquarz wurde in Steinbrüchen bei Paris abgebaut, speziell für diesen Zweck. Er ist bei gleichzeitiger Porösität extrem hart und spröde. Gerade durch seine Löcher und Warzenbildungen hat er ideale Eigenschaften. Die Müller, die 1871 mit gegen die Franzosen zogen, haben diese Steine entdeckt und daraufhin hierher mitgenommen und sehr populär gemacht. Aber diese hier sind keine Beutestücke, die hat mein Großvater schon alt gekauft. So was wurde vererbt. Hier aus der Mühle wurden sie nur deshalb rausgenommen, weil wir damals ja nur schroten durften, und fürs Schroten sind die nicht geeignet. Nun sind sie ein bisschen verwittert, aber die ganze Pracht ist immer noch zu sehen. Der wiegt ja über eine Tonne, man musste mit riesigen Flaschenzügen hantieren, um ihn auszutarieren. Der obere, der Läuferstein, der liegt ja hier so auf zwei Punkten, man muss sich das vorstellen wie eine Kardanische Aufhängung. Man legt hier an der Seite, da sind kleine Öffnungen, Ausgleichsgewichte rein, und nur durch diese kleinen Gewichte wird das austariert. Das ist ein sehr komplizierter Vorgang, und es dauert viele Stunden, bis dann endlich alles plan liegt. Zum Glück habe ich das alles selber gelernt.“

Herr Melior führt uns ins Haus und macht Kaffee. Die Wohnküche ist angenehm warm, moosgrün möbliert und geeignet für eine größere Familie. „Ich habe ja praktisch bis 1990 wissenschaftlich gearbeitet“, erzählt Herr Melior und stellt uns Tassen und Teller hin, „im Akademie-Institut der damaligen Akademie der Wissenschaften. Als Plasmaphysiker habe ich mich dort vor allem mit Werkstoffentwicklung befasst, es ging um Hochleistungsmaterieal, zum Beispiel für künstliche Gelenkprothesen oder extrem feste Faserstoffe usw. Im Frühjahr 1990 bin ich dann überraschenderweise hier Bürgermeister geworden und war sehr engagiert (lacht) in Langerwisch. Dann bin ich auf die Verwaltungsschiene gewechselt nach der Auflösung des Amtes hier. Das ging dann eine ganze Weile, aber es ging immer schlechter. Als leitender Angestellter hatte ich eine Zeit lang ein bisschen was zu sagen, das wurde dann immer weniger (lacht), und irgendwann hörte es ganz auf! Eine Rückkehr in den Beruf war inzwischen völlig unmöglich, die Türen für mich sind eigentlich alle zu, wissenschaftliche sowieso und verwalterisch eigentlich auch. So kam ich zur Mühle. Ich dachte, was eigentlich schon Generationen getragen hat … Ich biete also Führungen an für Schulklassen, Besuchergruppen oder auch Einzelinteressenten. Ich kann ja alle möglichen Führungen machen, soziologische, historische, physikalische, regelungstechnische. Es waren schon Technikfreunde hier, Historiker, Landschaftsplaner, Ästheten, Literaten, Künstler, Sozialforscher und auch Zimmerleute, die das alles wieder anders sehen. Jeder hat seinen konkreten Blick, und das ist es, was die Sache so interessant macht und reizvoll. Der gängige romantische Blick zum Beispiel auf die Mühle, das ist ja immer schon der bürgerliche Blick des Städters aufs Land gewesen. Der Landsmann selbst, der an der Mühle vorbeikommt, der hatte überhaupt keine Assoziationen dazu, für ihn war das ein selbstverständlicher Anblick eines Arbeitsgerätes. Das ist auch so ein bisschen das Problem heute. Wenn ich die Flügel anmache, dann drehen sich die Leute drüben auf der weit entfernten Straße um – man sieht die Mühle ja über große Entfernung –, und bald sind sie da und halten einen von der Arbeit ab. Wer kommen möchte, der sollte sich schon vorher telefonisch anmelden. Na gut, es gibt ja fast keine richtige Mühle mehr und noch viel weniger eine Mühle, die auch müllerisch gesehen Mühle ist, funktionstüchtig und so hohe Standards erfüllt. Das wird der Sache auch sehr zugute kommen, bei meinem Vorhaben, die Mühle zu zeigen und zu nutzen, denn sie ist authentisch und nachvollziehbar, sodass man sich wirklich ein lebhaftes Bild machen kann von dem Vorgang. Das sind überschaubare, identifizierbare Prozesse, und es treibt mich zum Beispiel schon an, dass es um den Kern der menschlichen Ernährungsgrundlage geht.“

Er trinkt schweigend in kleinen Schlucken seinen Kaffee und überreicht uns zum Abschied ein Roggenbrot, gebacken vom Bäcker im Nachbarort. Das Getreide wuchs auf den umliegenden Feldern und wurde in der Mühle gemahlen. Seit Wochen habe ich Lust, noch mal von diesem Brot zu essen, schaffe es aber nicht, donnerstags zur Bäckerei nach Wilhelmshorst zu fahren.