Eingeschränkt demokratisch

Die US-Regierung ignoriert derzeit gern das internationale Recht. Aber auch in den USA steht es um das Rechtssystem nicht zum Besten, wie Thomas Schuler eindrucksvoll zeigt

Mit ihrer Entscheidung, ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrats in einen Krieg gegen den Irak zu ziehen, haben die USA das Völkerrecht missachtet. Die amerikanische Bereitschaft, sich notfalls über internationales Recht hinwegzusetzen oder sich ihm zu entziehen, ist auch von anderen Vorgängen bekannt (z. B. beim Klimaschutz) und hat sich unter der Ägide George W. Bushs merklich verstärkt: Wenn möglich, dann handelt Amerika mit anderen zusammen; wenn nötig, dann handelt es allein.

Das von Taktik, Opportunität und Machtkalkül bestimmte Verhältnis der USA zum internationalen Recht ist erstaunlich. Wie kann die amerikanische Regierung internationales Recht ignorieren, wo doch Freiheit und Demokratie – also die Herrschaft des Rechts – ihre erklärten Ziele sind?, fragt sich Thomas Schuler in seinem neuen Buch. Auch wenn man konzediert, dass internationales Recht in den Augen vieler Amerikaner ein Recht zweiter Ordnung sei, widerspräche dieses Verhaltensmuster gleichwohl dem außerordentlichen Stellenwert, den das Recht ansonsten in ihrem Denken und Handeln einnimmt. Der „amerikanische Traum“, so Schuler, verspricht nicht nur das Recht auf Selbstverwirklichung. Er verspricht jedem Bürger auch die Herrschaft des Rechts. Der tief verwurzelte Glaube an das gleiche Recht für alle ist einer der Fundamente des Landes.

Folgt man jedoch Schulers Tour d’Horizon durch die amerikanische Rechtspraxis, dann stellt sich Ernüchterung ein. Vieles deutet darauf hin, dass die mitunter fragwürdige Haltung der USA zum internationalen Recht von einer problematischen Entwicklung inneramerikanischer Rechtsverhältnisse nicht zu trennen ist. In einem historisch orientierten Kapitel zeigt Schuler zwar, dass Recht immer schon als Machtinstrument, etwa gegen Indianer und Schwarze, eingesetzt wurde. Viele Schattenseiten und Fehlentwicklungen sind aber neueren Datum. So berichtet Schuler von der Manie der Amerikaner, ihr vermeintliches oder tatsächliches Recht auf dem Klageweg durchzusetzen; er beschäftigt sich mit den zahlreichen Sammelklagen, die immer wieder auf horrende Schadenersatzforderungen abzielen. Er kritisiert die Rolle, die das wachsende Heer eigennütziger und bigotter Anwälte in diesem Zusammenhang spielt, und erzählt von der wachsenden Angst vieler Amerikaner, von ihren Mitbürgern verklagt zu werden.

Schuler führt ein Rechtssystem vor, das bis in den Obersten Gerichtshof hinein in einem Maße politisiert ist wie kein anderes in einer Demokratie. Ein Rechtssystem, in dem ungeachtet aller Gleichheitsparolen Reiche weit eher als Arme, Weiße weit eher als Hispanos darauf hoffen können, ihr Recht zu bekommen – und in dem mehr Menschen hinter Gittern sitzen als in den meisten Ländern dieser Welt. Zudem zeigt er, wie der Staat im Kampf gegen den Terror ein paralleles Rechtssystem installiert hat, das alles in den Schatten stellt, was man bei uns an Antiterrorgesetzen kennt.

Schuler hat den vielen USA-Büchern, die derzeit den Markt bereichern, einen interessanten und bislang nur wenig beachteten Aspekt beigefügt. Auch wenn man nicht jedem Einzelurteil zustimmt und den Untertitel ein wenig zu pathetisch finden mag – sein Buch dokumentiert einen verbreiteten und bedenklichen Missbrauch des amerikanischen Rechtssystems. Es zeigt, dass die exzessive Suche nach individuellem Recht nicht geeignet ist, allgemeine Gerechtigkeit hervorzubringen, dass es, im Gegenteil, die amerikanische Sucht nach Recht ist, die zunehmend Unrecht gebiert. In seinem gegenwärtigen Zustand, so Schuler, ist das amerikanische Rechtssystem nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Und wird immer öfter auch für andere Länder zum Problem, weil im Zeitalter der Globalisierung und der US-Hegemonie amerikanisches Recht und Rechtsauffassungen zum globalen Exportgut werden. ULRICH TEUSCH

Thomas Schuler: „Immer im Recht. Wie Amerika sich und seine Ideale verrät“. 320 Seiten, Riemann Verlag, München 2003, 22 €