Auf dem Eisberg der Geschichte

In die Gegenwart führt kein Weg zurück: Alexander Sokurows Film „Russian Ark“ ist eine museale Krafttour

Rubens, Tintoretto, Tizian. Wo immer die Kamera in Alexander Sokurows „Russian Ark“ verweilt, gibt es Kunst zu sehen. Nicht bloß in der Eremitage von Sankt Petersburg, auch vor den Toren des gewaltigen Komplexes aus Museumsgebäuden, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts errichtet und von Katharina der Großen zu einer der wichtigsten Kunstsammlungen Europas ausgebaut wurde. Ein letzter Schwenk auf eine offene Tür zeigt eine sich endlos in weiß auftürmende Eislandschaft, den Gemälden von Caspar David Friedrich ähnlich. In diesem eingefrorenen Moment liegt schon alle Wirklichkeit: Die Welt ist bei Sokurow nur als ein Fenster zu ertragen, durch das man auf Bilder schaut.

Dass Sokurow Leben allein in ästhetischen Kategorien denken kann, mag seiner Biografie geschuldet sein. Der 1951 geborene Filmemacher galt nach seinem Regiestudium in Moskau als Staatsfeind. Ab 1980 war er praktisch mit Berufsverbot belegt. Ohne die Fürsprache Andrei Tarkowskis, der im Exil einen Hilfsfonds für ihn gründete, hätte Sokurow überhaupt nicht weiter drehen können. Seine Filme wurden erst nach 1986 in der Sowjetunion gezeigt.

Seither ist jede neue Produktion von Sokurow auch Arbeit an seiner Hassliebe zur Vergangenheit. Für die documenta X filmte er mit „Mutter & Sohn“ eine Art ödipales Requiem: Die sterbende alte Frau wird von ihrem Sohn durch nebelverhangene Wälder getragen. Selbst im Tod kann er nicht von ihr ablassen und bleibt ohne Obhut im Nirgendwo Russlands zurück. Nach „Mutter & Sohn“ folgten Dramolette über Hitlers Beziehung zu Eva Braun („Moloch“) und über die letzten Tage Lenins („Taurus“), dessen Dahinsiechen mit unendlicher Langsamkeit vor der Kamera vollzogen wird. Dabei legen die Akribie und Strenge, mit der Sokurow seine Poetisierung von Erinnerung betreibt, den Vergleich mit Hans-Jürgen Syberberg nahe, bei dem es ja auch ständig um die Dämonen und Eisberge der Geschichte geht. Und um Film als Gesamtkunstwerk.

Tatsächlich zielt „Russian Ark“ genau auf jene Überwältigung durch Monumentalisierung ab. Dafür hat Sokurow das Medium des Films wie eine olympische Disziplin ausgereizt: In einer einzigen, 90 Minuten fortdauernden Einstellung wird die Kamera von Tilman Büttner knapp anderthalb Kilometer durch die Museumsräume geschleppt, in denen 3.000 Schauspieler und Komparsen, dazu noch drei Live-Orchester ein Tableau vivant aus dreihundert Jahren russischer Kulturgeschichte nachstellen. Im Zentrum dieser musealen Krafttour steht Sokurow selbst, der als Erzähler aus dem Off – er selbst nennt es „Autor“ – die Szenen über Zeitsprünge und wechselndes Personal hinweg miteinander verknüpft. Sokurow ist der große Abwesende, der mal mit einem französischen Diplomaten aus dem 19. Jahrhundert gebildet über italienische Barockkunst parliert und sich mal von dem heutigen Direktor der Eremitage, Michael Petrowski, erklären lässt, welche Bürde die Leitung der Sammlungen mit sich bringt in den Unbilden der kapitalistischen Zeit. So hebt sich selbst Fiktion und Dokument im Fluss von „Russian Ark“ auf.

Damit hat nicht Sokurow, aber der Betrachter ein Problem. Vor lauter Begeisterung über das Eintauchen in die Vergangenheit aus Zarenherrlichkeit und Kunstgenuss kann man Sokurow bei seinen Ausführungen kaum noch folgen. Zu sehr ist sein Blick kulturologisch fixiert, ständig werden Texte russischer oder europäischer Dichter und Philosophen zitiert, kommentiert und dann wieder fallen gelassen, weil Sokurow ein neues Gemälde oder eine neue historische Person, ein interessanter Feldmarschall oder die leibhaftige Zarin gar auf dem Weg durch die Galerien begegnen. Im unentwegten Verknüpfen der Legenden verliert der Film allerdings auch den Blick für jene einzelnen Werke, aus denen sich die Sammlung überhaupt erst bilden konnte. Rubens, Goya, Velazquez, nur austauschbare Dekoration? Vielleicht ist die Verwirrung gewollt, eine Verbeugung vor der Romantik und deren festem Glauben an eine Welt aus Fragmenten, in der alles mit allem zusammenhing. Dieser Faden ist gerissen, das weiß auch Sokurow, wenn er weite Teile des Eremitage-Bestands ausblendet: Kein grell gelber Van Gogh und keine Parklandschaften von Monet stören seine vormodernen Kreise. Und in die Gegenwart führt ohnehin kein Weg zurück. HARALD FRICKE

„Russian Ark“. Regie: Alexander Sokurow. Mit Sergei Dreiden, Maria Kusnetsowa, Leonid Mozgowoi u. a., Deutschland/Russland 2002, 96 Min.