Greendale ist überall

Wenn aus Bäumen Papiertüten werden und aus Kleinbürgern Polizistenmörder: Neil Young erzählte mit einem Akustikset im Berliner Tempodrom schwarzweiße Geschichten von Gut und Böse

von GERRIT BARTELS

Nach gut einer halben Stunde scheint sich jemand in den vorderen Stuhlreihen nicht mehr zurückhalten zu können: „Ey, Neil“, ruft er auf Englisch, „deine Geschichten sind für uns Deutsche nur schwer zu verstehen, wenn du sie in Englisch erzählst.“ Niemand im ausverkauften Berliner Tempodrom weiß, was den guten Mann treibt – das Schweigen auf seine Worte könnte nicht betretener sein. Ein Witzbold? Ein Peter-Gabriel-Fan? Eine verlorene Seele? Einer, der zum Puhdys-Konzert vorm Roten Rathaus wollte, aber dann noch eine Karte unter 90 Euro für Neil Youngs Unplugged-Auftritt ergattert hat? Den Angesprochenen aber macht es nichts aus: Neil Young lacht. Er könne kein Deutsch. Aber wenn er es könnte, würde er natürlich Deutsch sprechen, antwortet Young und lädt den Mann ein: „Wenn du genau solche Geschichten wie ich zu erzählen hast, dann komm hoch und erzähl sie auf Deutsch.“

Dieser kleine Zwischenfall ist insofern überraschend, als dass das Publikum bestens vorbereitet war. Die ZDF-Kultursendung „Aspekte“, zwei eifrige überregionale Tageszeitungen, die von Youngs Konzert aus Oslo berichteten, diverse Seiten im Internet – sie alle hatten schnell die Kunde verbreitet, dass Neil Young auf seiner Tour einen neuen Set spielen und dabei Geschichten von der Familie Green aus dem fiktiven Kleinstädtchen Greendale erzählen würde. Simple, holzschnittartige Geschichten von Gut und Böse, von netten, unbedarften, bodenständigen Menschen, die plötzlich mit der ach so kaputten, korrupten, zynischen modernen Welt da draußen konfrontiert werden.

Die Geschichte von Jed Green beispielsweise, der unter Drogeneinfluss zum Polizistenmörder wird – sie soll der auf wahren Begebenheiten beruhende Ursprung von Youngs Greendale-Roman gewesen sein. Oder die von Großvater Green, dessen Haus nach Jeds Tat von den Medien umstellt wird und der sprichwörtlich von einem Mikrofon umgebracht wird: „Grandpa died like a hero, fighting for freedom of silence and the right to be anonymous.“ Oder die von Sun Green, die sich im Eingangsbereich eines großen Konzerns („Power Co.“!) an einen bronzenen Seeadler kettet und das Weiße Haus anklagt.

Kapitel für Kapitel entwickelt Young im Tempodrom die Saga der Familie Green, Song für Song, unter Mithilfe von drei Akustikgitarren, mehreren Mundharmonikas, zwei Klavieren und einem Megafon. Die Bühne ist sparsam beleuchtet: Vier große, dicke Kerzen stehen um den wie üblich unspektakulär gekleideten, immer mehr einem DGB-Vorsitzenden gleichenden Young herum. Wieder und wieder hört man von ihm die Beschwörung des „Summer of love“, von „Mother earth“, Aufforderungen wie „Be rain!“ oder „Be ocean!“, Zeilen wie „Save the planet for another day“ oder „Someday you’ll find what you’re looking for!“.

Ein alter Musiker auf der Bühne, ein Lagerfeuermusikant, ein Ökopax direkt aus den frühen Achtzigern, ein Schwarzweißmaler und platter Medienkritiker – man könnte das Gruseln bekommen und sich, wie früher, sofort eine Band wie Heaven 17 herbeiwünschen. Doch nicht bei Neil Young. Der hält das alles aus, der ist so sausouverän, so bei sich, der wischt mit seinem Auftritt viele Bedenken beiseite. Unpathetisch, entspannt und ohne erhobene Zeigefinger performt er seine Greendale-Lieder, spröde ist die Musik, aber schön. Und witzig ist er, wenn er Figuren wie Großmutter Green beschreibt: 105 Jahre, Kettenraucherin, Kaffeeliebhaberin. Wie den Maler, der nie ein Bild verkauft. Wie den Teufel, der weiß, dass er die Kirchentür besser nicht öffnet. Einmal fragt Young gar: „Is it a crime to be evil?“

Man weiß dann, dass er nicht gleich zum „Lead-Sänger der Globalisierungskritiker“ wird, wie es in der SZ stand, und zu einer coolen Sau sowieso nicht. Da sei allein sein Publikum vor, die vielen ergrauten Jeansklamottenträger, die bestenfalls passive Globalisierungsgegner sind und den 1. Mai in Berlin wohl eher in „Paule’s Metal-Eck“ oder „Zur fröhlichen Tankstelle“ begehen. Denen reicht es schon, „wenn er nur wieder weg von Bush ist“, wie sich eine Mittvierzigerin freut, „und ein Guter bleibt“.

Da sei aber auch Young vor. Denn alles, was er an diesem Abend erzählt und spielt, ist nicht neu und taucht an jeder Stelle seines Werkes irgendwo auf. Egal, welches Album, man findet Songs wie „Piece Of Crap“, die beklagen, dass aus Bäumen Papiertüten und dann Müll werden, oder „Natural Beauty“, die das hohe Lied der Natur singen. So ist das eben bei Young. Und so ist es auch: Auf Reagan folgen Nirvana und Pearl Jam, auf „Let’s Roll“, Youngs letztem patriotischen 9/11-Irrläufer, folgt „Greendale“ und vielleicht bald wieder ein Zusammenschluss mit neuen, jungen Rock ’n’ Rollern (etwa die Strokes, hach!). Hey, hey, my, my halt.

Solche Konstanz und solche Wirrungen halten lebendig und das Publikum bei Laune, das nach einer Pause natürlich noch alte Songs zu hören bekommt; Songs, die Erinnerungen wachrufen und die Zeit anhalten. Young spielt „Lotta Love“, „Old Man“ oder „After The Goldrush“, macht dabei aber einen eher wuschigen Eindruck. Seine Hauptarbeit ist getan. Nun blättert er minutenlang ratlos in einem dicken Ringbuch, geht ans Klavier, nimmt eine Gitarre, überlegt es sich anders usw. „Sollen wir helfen?“, schallt es aus dem Publikum, gefolgt von zahlreichen Songwünschen. Doch Young hat auch darauf eine Antwort parat. Er brauche nunmal so lange, dieser Song sei wichtig: „Nicht für mich. Aber für euch!“