Lebst du schon?

Wohnen? Das tut man doch so nebenher, oder? Falsch! Das neue Wohnen ist ein dezisionistischer Akt. Und sei es ein Akt antisozialer Gemütlichkeit. Zum Auftakt des wohn.mags ein Bericht über das Wohnen mit kleinen Macken

von REINHARD KRAUSE

Steht ein Mann vor einer Haustür und drückt auf die Türklingel. Sieht spießig aus, der Mann, rausgeputzt zum Schönwettermachen. Irgendwie geschmacklos.

Schnitt. Im Haus sitzt ein Rentnerehepaar vor dem Fernseher. Es klingelt schon wieder. Der alte Mann und die alte Frau sehen sich an. Verziehen keine Miene. Der alte Mann hebt die Fernbedienung, der Ton wird lauter, übertönt das dritte Klingeln. Der Spießige an der Haustür – man ahnt: es ist der Sohn! – rauft sich vor Wut die Haare. Der Bildschirm wird schwarz, dann weiß mit dem Ikea-Logo darauf. Und der Ikea-Mann sagt den erlösenden Satz: „Wohnst du noch, oder lebst du schon?“

Das Überraschende, womöglich gar Schockierende an diesem TV-Werbespot war natürlich nicht der Umstand, dass hier eine Form von Gemütlichkeit propagiert wurde, die nur am Rande mit dem Produkt, nämlich mit Ikea-Möbeln, zu schaffen hatte (die alten Eltern sitzen in engem, aber trendig-modernem Meublement), sondern die unverhoffte Aufkündigung der Soziabilität: Es ist doch schöner und gemütlicher, wenn man den Sohn nicht hereinlässt. Bürgerlicher Benimm? Perdu. Das „unmögliche Möbelhaus“ hat wieder einmal zugeschlagen.

In den Neunzigerjahren erlebte der Begriff des „Cocooning“ – des Sicheinspinnens ins sichere Private als Antidot zum unsicheren Draußen – als küchensoziologisches Schlagwort seine Blütezeit. Ein Unterton von Ersatz klang stets mit. Das Eigentliche sei doch wohl immer noch die Welt vor der Haustür. Die Arbeitswelt. Das Drinnen, das ist die Welt der Hausfrauen, okay, der Sockel an Lebensqualität, aber doch wohl auch – pst! – eine Lebenssphäre minderer Güte. Bei „German Gemütlichkeit“ denken misstrauische Deutsche gleich an Mutti und Muff.

Die Ikea-Formel „Wohnst du noch, oder lebst du schon?“ verheißt eine Dynamisierung oder zumindest Intensivierung der häuslichen Welt. Auch wenn es natürlich Unsinn ist, das Wohnen gegen das Leben in Opposition zu setzen, schließlich müssen beide Begriffe erst mit Inhalt und Tätigkeit gefüllt werden. Wollte man es in die Terminologie der Trendbüros dieser Welt kleiden, könnte man von einer Amalgamierung aus „Cocooning“ und „Awareness“ sprechen. Die Wohnung wird aus dem Dämmerschlaf des Rekreativen gerissen und als Laboratorium für die Lebensgestaltung zurückgewonnen.

Neue Möbel können ein erster Schritt auf dem Weg dorthin sein, wichtiger jedoch ist die Bereitschaft zur Erkenntnis und Umsetzung der eigenen Lebenswünsche: vom Genießen des Faulseins über das Ausleben einer Putzneurose bis hin zum Führen eines kulinarischen Salons, um nur einige der häuslichen Möglichkeiten zu umreißen. Man könnte Karl Valentins berühmtes Bonmot über die Kunst paraphrasieren: Auch das Wohnen ist schön, aber es erfordert ebenfalls einen gewissen organisatorischen Ernst. Und den Willen zur Selbsterkenntnis.

Berthold B. zum Beispiel ist im Bankgewerbe tätig, aber das merkt man eigentlich gar nicht, wenn man privat mit ihm zu tun hat. Dass seine Wohnung eine Eigentumswohnung ist, wissen nur ein paar seiner engsten Vertrauten. Durch die Raten hat Berthold B. zurzeit ähnlich wenig Geld zur Verfügung wie seine immer etwas finanzschwachen Freunde. Das verbindet.

Die Wohnung von Berthold B. ist geschmackvoll und modern möbliert. Wenn Gäste kommen, halten sie sich gern hier auf. Wenn sie kommen. Viel Gelegenheit dazu gibt es nämlich nicht. Denn Berthold B. hat ein Problem: das Aufräumen. Das zumindest sagt er mit enervierender Regelmäßigkeit, wenn er gefragt wird, ob man nicht am Wochenende einen gemeinsamen Ausflug machen wolle. Oder zusammen abends essen gehen. Oder in die Disko. „Seid mir nicht böse, aber ich muss dringend aufräumen.“

Kein Mensch weiß, ob Berthold B. tatsächlich unter der Woche, wenn er vor lauter Arbeitsstress kaum Zeit findet, seine Freunde einmal anzurufen, nur Chaos produziert, das dann am Wochenende Schicht für Schicht säuberlich abgetragen werden muss. Die einzigen Gelegenheiten, zu denen Berthold B. in seine Drei-Zimmer-Küche-Bad-Eigentumswohnung lädt, sind seine Geburtstage. Da ist immer alles picobello aufgeräumt. Fast kann man sich nicht vorstellen, dass sich hier von Montag bis Freitag das schmutzige Geschirr stapelt, Wäschestücke über Korridor, Schlafzimmer und Küche verteilt herumliegen, hastig verschüttetes Kaffeepulver nicht aufgefegt wird. Berthold B.s Freunde fragen sich langsam: Ist Berthold B. eine Schlampe? Oder hat er eine Putzneurose?

Und sie wissen nicht so recht, was sie ihm wünschen sollen: Dass er die Unordnung Unordnung sein lässt und ein sozialeres Leben beginnt? Oder dass er ihnen einfach rundheraus die Wahrheit sagt. Dass er nämlich spätabends in eine superordentliche Wohnung kommt, sich erschöpft, aber gepflegt vor den Fernseher setzt und am Wochenende froh ist, keine Menschenseele zu sehen. Vielleicht hat Berthold B. ja längst den Zustand der Ikea-Gnade erreicht – er will seine Gemütlichkeit nur nicht durch Teilen mindern?!

Ein Möbeldiscounter mit dem bezeichnenden Namen „Who’s perfect?“ bietet leicht lädierte Designermöbel zu reduzierten Preisen an. Sein Werbemotto: „Jedem seine Macke.“ Besser könnte man es nicht sagen. Denn was sind schon die Macken an den Möbeln gegen die kleinen Macken der Wohnenden? Entscheidend ist, dass man sich ihrer bewusst wird und überprüft, ob man sie ablegen oder kultivieren will. Einem Gast wird meist schneller als dem Gastgeber klar: Dieser Mensch und sein Zuhause passen nicht richtig zusammen. Oder nicht mehr. Vielleicht ist die Wohnung ja einfach nur zu klein?

Philipp N. ist das ganze Gegenteil von Berthold B. Wer sich mit ihm verabreden will, sollte das Festnetz Festnetz sein lassen und ihn über das Handy zu erreichen versuchen. Vermutlich wird er ihn auf der Autobahn erwischen. Es gibt kaum ein Wochenende, an dem Philipp N. nicht unterwegs wäre, auf dem Weg zum Popkonzert in Frankfurt, zur Ausstellung in Emden, zum Familientreffen in Göttingen, zum CSD in Hamburg. Ein Leben aus den Vollen. Und stets in angenehmer Begleitung. „Wenn ich endlich die Prüfungen hinter mir habe“, sagte Phillip N. in der Endphase seines Germanistikstudiums selbstironisch, „mache ich einen Amüsierbetrieb auf.“ Er ist dann doch Steuerberater geworden, aber das Amüsement kommt auch nicht zu kurz.

Schon eher die Wohnung. Die platzt aus den Nähten von all den Mitbringseln, den CDs und den Bildbänden, den Dutzenden von Diakästen und Fotoalben, den Reiseführern. Eines Tages stellte Phillip N. entnervt fest, dass es ein hoffnungsloser Kampf war, den er gegen das Chaos in diesem Erinnerungsberg führte, und dass zu wenig Zeit blieb, die neuen Platten überhaupt zu hören, die Bücher zu lesen. War Philipp N. zu unordentlich für sein Leben geworden? Sein Lebensgefährte beruhigte ihn: Er habe nur einfach zu wenige Regale. Doch inzwischen ist für weitere Schränke kein Platz mehr, Platznot macht sich breit. Für eine größere Wohnung allerdings fehlt das Geld – von der Schreckensvision, die Sammlung durch die Stadt zu transportieren einmal zu schweigen. Aber wenn Phillip N. über die Autobahn fährt, kann er die Enge daheim ja vergessen.

Wohnungen können aber nicht nur zu klein, sie können auch zu groß sein. Wie die von Horst S. Jahrelang freute er sich auf die Aussicht, die Vierzimmerwohnung eines Tages nicht mehr mit anderen teilen zu müssen. Als er sie sich schließlich leisten konnte, stand er vor einem ungeahnten Problem: Was sollte er bloß mit den zusätzlichen Zimmern anfangen? Die Küchenmöbel stellte Horst S. in den einen Raum und erklärte ihn zum Esszimmer; der andere wurde zur „Bibliothek“. Aber eigentlich hatte sich nur die Zahl der notwendigen Schritte von einer Wohnfunktion zur nächsten erhöht. Das Mehr an Freiraum war, bei Licht besehen, ein Mehr an Leere.

Bald wanderte der Esstisch zurück in die Küche, und aus dem verwaisten Esszimmer wurde ein luxuriöses Altpapierlager. Vier Tages- und zwei Wochenzeitungen sowie diverse Magazine summierten sich binnen eines Jahres zu einem erstaunlichen Berg. Gut, dass nie ein Feuerwehrmann diesen Raum zu Gesicht bekam. Die Halde per Fahrrad zum nächstgelegenen Altpapiercontainer zu transportieren, hätte zwei Tage gekostet. Am Ende ließ Horst S. eine Mulde unter dem Fenster aufstellen und warf den Zimmerinhalt bequem in die Tiefe. Und begann unverzüglich mit einer neuen Sammlung.

Richtiges oder wenigstens besseres Wohnen lasse sich lernen, behaupten sämtliche Wohnratgeber seit hundert Jahren. Dabei berücksichtigen sie jedoch vor allem organisatorische und hauswirtschaftiche sowie ästhetische Aspekte. Eher esoterisch inspirierte Einrichtungslehren wie Feng Shui trachten zuvörderst die Nutzung der energetischen Ströme des Wohnraums. Erstaunlich, dass sich kaum ein Psychologe mit dem reichen Feld unglücklichen Wohnens befasst. Denn oft genug spiegelt das Unwohlsein in einer Wohnung die Unzufriedenheit seiner Bewohner mit ihrem Leben.

Corinna W. etwa lebte sechs Jahre in Berlin, der Arbeit wegen. Aber eigentlich war sie immer unzufrieden. Die Stadt war ihr zu hässlich, zu laut, zu anstrengend. Auch wesensfremd. Vier Jahre hatte sie in einer Firmenwohnung gelebt, die sie mit ihren Möbeln aus der Studentenzeit ansprechend möblierte. Dann wurde das Haus verkauft, und Corinna W. zog in ein gut saniertes, ruhiges Hinterhaus.

Die Vormieter waren nach nur sechs Monaten aus der Zweieinhalbzimmerwohnung ausgezogen. Ihre Morgengabe an Corinna W.: Erst kürzlich tapezierte Wände – mit einem grauenhaften blumigen Strukturmuster aus Polyäthylen. Komplett abreißen oder nur weiß überstreichen? Corinna W. entschied sich für die schnelle Lösung – auch wenn die Strukturblumen nach wie vor deutlich sichtbar aus dem Weiß hervorquollen.

Noch mehr verwundern konnte allerdings, dass sich Corinna W. auch nach einem Jahr nicht entschloss, auch nur in einem ihrer Räume einen Lampenschirm zu installieren, was dem Wohnzimmer, der Küche, dem Bad zumindest einen Hauch Wohnlichkeit gegeben hätte. Statt dessen hingen überall nackte Glühbirnen in den Fassungen. German Gemütlichkeit? No way!

Vermutlich wollte sich Corinna W. in ihrer Wohnung und in Berlin auch nicht mehr wohlfühlen. Sie wusste es nur noch nicht. Nach zwei nur von Glühbirnen erleuchteten Jahren bewarb sie sich auf eine Stelle in ihrer Heimatstadt – und wurde genommen. Zwei Wochen nach dem Umzug hingen alle Lampen.

Wenn es ums Wohnen geht, gibt es vielerlei Irrtümer und auch Irrlehren. So ist etwa der Glaube weit verbreitet, ein Altbau mit hohen Raumhöhen garantiere bereits Helligkeit und hohe Wohnqualität. Meist jedoch stellt sich heraus, dass riesige und hohe Zimmer nicht nur schwer zu heizen sind – sie lassen sich auch häufig nicht eben leicht möblieren und in sinnvolle Funktionsinseln aufteilen. An einer solchen Aufgabe können sich bisweilen selbst Menschen die Zähne ausbeißen, denen das Heim ihre Burg ist.

Kurt P. lädt seine Freunde zum Einweihungskuchen in seine neue Wohnung ein. In dem Altbau gibt es Wohnungstüren wie in einem preußischen Amtsgericht von 1905 und in jedem Raum üppigen Stuck. Allerdings ist die Raumabfolge mehr als eigentümlich, was sich daraus erklären lässt, dass die ehemals herrschaftliche Wohnung nach dem Krieg geteilt wurde. Direkt neben der Wohnungstür liegt nun der Eingang zu Kurt P.s Schlafzimmer. Will man in den Rest der Wohnung gelangen, muss man dem langen, s-förmig mäandernden Korridor folgen, bis man eine Art Salon erreicht. Noch dahinter findet man die Küche, die frühere Dienstmädchenkammer und – endlich! – das Bad. In solchen Wohnungen wurde einst das Töpfchen erfunden.

In die Renovierung und Ausstattung hat Kurt P. einen erklecklichen Teil seines elterlichen Erbes gesteckt. Und Liebe zum Detail. Die Möblierung besteht aus Gründerzeitschränken und einer Sitzgruppe in einem etwas rustikalen Jugendstil. Allerdings: Man sitzt seltsam steif und unfroh. Das hat Kurt P. schon verschiedentlich bescheinigt bekommen. Und wenn er ehrlich ist, das sagt Kurt P. ungefragt, findet er es bei sich zu Hause auch ungemütlich. Die von ihm konsultierte Feng-Shui-Expertin sagte rundheraus: „Herr P., ich sehe nicht, dass Sie hier lange wohnen werden. Das ist ja die reinste Durchgangswohnung!“

Doch Einsicht ist der erste Weg zu neuer Tatkraft. Kurt P. weiß jetzt, dass seine Wohnung ihn vor eine harte Probe stellt: Entweder er muss lernen, seinen kalten Salon mit Leben zu füllen – oder er muss gehen. Kurt P. nimmt die Herausforderung an: Als Erstes will er nun kochen lernen, vor allem für Gäste. Sein Spinat mit Spiegelei letztens war gar nicht so übel.

Bleibt zu hoffen, dass mehr und mehr Menschen lernen, ihrer inneren Stimme zu folgen und der ihnen gemäßen Form von Gemütlichkeit zuzustreben. Die Gesundheit wird es ihnen danken. Selbst wenn ihre höchst individuelle Ausgestaltung von Gemütlichkeit andere erstaunen lässt. Sie müssen ja nicht gleich mit der Familie brechen, wie die beiden alten Leutchen aus dem Ikea-Spot.

Aber apropos: Wieso tauchen in diesem Text eigentlich nur Menschen auf, die allein wohnen, aber keine einzige Familie mit Kindern? Hierfür gibt es drei Gründe. Erstens: Weil Familien mit Nachwuchs ohnehin ein latent chaotisches System bilden, in dessen Mittelpunkt die Eskapaden der Kinder stehen. Zweitens: Weil die permanente gegenseitige Kontrolle exzentrische Wohn- und Lebensmacken nicht zur vollsten Blüte kommen lässt (was man bedauern mag oder auch nicht). Und drittens: Weil es noch einmal ein ganz anderes Thema ist, wieso in schockierend vielen Familien irgend ein Bastel- oder Bürokeller der einzige Raum ist, den Väter als ihr eigenes Reich betrachten – ein Raum, so unattraktiv, dass ihn niemand aus der Familie jemals streitig machen wird. Aber jetzt einmal ganz im Sinne von New Ikea gedacht: Was, wenn dort das wilde, das neue selbst bestimmte Leben tobt?! Ach, vergessen wir’s.

REINHARD KRAUSE, 41, ist taz.mag-Redakteur. Auch er müsste mal wieder gründlich ausmisten