Das vollkommen zeitgemäße Virus

Die gesellschaftliche Perspektive auf Aids war eine des Lebenswandels. Bei SARS gibt keine richtige Lebensführung, aus der Schutz erwachsen würde. Jeder ist potenzielles Opfer. Gerade dieser Unberechenbarkeit wohnt ein großer Schrecken inne

von ISOLDE CHARIM

Gleichzeitig mit dem Irakkrieg tauchten die ersten Bilder einer neuen Vermummung auf: nicht mehr afghanische Tschadors, sondern weiße Mundbinden aus China. Damals – also vor rund einem Monat – schenkte man ihnen nur wenig Beachtung. Es gab zwar einen kurzen Moment der Irritation, aber dann wandte sich die öffentliche Aufmerksamkeit schnell wieder dem Irak zu. Nun ist der Krieg beendet und die Bilder aus Asien zeigen Peking bereits im Ausnahmezustand. Der Fernsehkonsument konnte also nahtlos vom Ausnahmezustand des Krieges zu jenem der Seuche wechseln. SARS (Severe Acute Respiratory Syndrome), die „erste globale Epidemie dieses Jahrhunderts“ (WHO), löst auch eine epidemische Angst aus, weit über die Realität der bisherigen Opferzahlen hinaus.

Das Gefühl einer immensen Bedrohung rührt wesentlich von der Art der Übertragung her. Anders als bei der letzten großen Seuche bedarf es keiner besonderen Aktivitäten, um sich anzustecken. War es bei Aids noch (im Wesentlichen) der Geschlechtsverkehr, so genügt nun das reine Atmen. Durch die Luft, das Medium, das uns alle umschließt, wird nun plötzlich jeder zur Gefahr für den anderen. Die Geschichten von „super-spreadern“ – egal ob sie stimmen oder nicht –, von lebenden Virenbomben, die alle in ihrem Umkreis kontaminieren, verdichten das Bild: Jeder ist nun jedermanns Feind – ohne böse Absicht. Es ist dies nicht jener vorgesellschaftliche Zustand, wie ihn Hobbes beschreibt. Die Bilder aus China erreichen uns eher wie aus einem Science-Fiction-Film: eine unheimliche Gefahr, die weniger von außen kommt, als dass sie mitten unter uns ist, durch uns hindurchgeht. Denn jeder kann unvermittelt zum Träger des tödlichen Virus werden. Man muss also jedem misstrauen – nicht seinen Absichten, aber seinem Körper.

In China ist die Reaktion darauf eine doppelte. Zum einen werden alle Körper gewissermaßen entprivatisiert und öffentlich gemacht: Das reicht von fliegenden Einsatztruppen zur Desinfizierung von Passanten bis zur täglichen Meldung der Körpertemperatur an die Hausverwaltung. Solcher Enteignung der Individualität begegnen manche durch das erstaunliche Phänomen einer individuellen Gestaltung ihrer Mundbinden.

Zum anderen werden die Körper aber auch voneinander isoliert – oder isolieren sich selbst: von Zwangsquarantänen bis zu jenem Verhalten im Bus, wo man sich so weit wie möglich vom anderen entfernt hinsetzt. Die chinesische Führung hat alle Orte des öffentlichen Lebens schließen lassen. Die Pekinger erleben also gleichzeitig eine (partielle) Auflösung ihrer Privatheit und eine äußerste Reduzierung des öffentlichen Bereichs. Beobachter beschreiben einen Stillstand des öffentlichen Lebens wie zur Zeit des Kriegsrechts nach Niederschlagung der Demokratiebewegung.

Damit sind die gesellschaftlichen Auswirkungen von SARS genau gegenteilig zu jenen von Aids. Die gesellschaftliche Perspektive auf Aids war eine auf den Lebenswandel. Aus der Verbreitung von SARS lässt sich jedoch keine Ethik ableiten: Es gibt jetzt keine richtige Lebensführung, aus der Schutz erwachsen würde, keine Risikogruppe, der man nicht angehören kann. Jetzt ist jeder ein potenzielles Opfer. SARS machte nicht einmal vor ihrem eigenen „Erfinder“ Halt. Der gänzlichen Unberechenbarkeit, wen es treffen kann, wohnt der große Schrecken von SARS inne. Damit scheint es das passende Virus zur Zeit zu sein. Und so wird es auch aufgenommen. Es fügt sich in die wesentlichen gegenwärtigen Bedrohungen und Angstszenarien, denen allen ein Moment gemeinsam ist: die völlige Kontingenz. Die Katastrophe ist ein kontingenter, zufälliger und mit keinem Sinn aufladbarer Einbruch ins normale Leben. Das verbindet SARS etwa mit dem neuen Terrorismus. Der völligen Unverfügbarkeit der Gefahr schutzlos ausgeliefert zu sein, das scheint eine Grunderfahrung unserer Zeit zu sein.

Hat Aids die westliche Gesellschaft durch eine „Versittlichung“ in einem gewissen Sinn stabilisiert, so bewirkt SARS eher die Auflösung der Gesellschaft – vor allem in China. Manche Kommentatoren sehen in der – späten – neuen Offenheit der chinesischen Informationspolitik eine Hoffnung für eine nachhaltige Demokratisierung. Zunächst muss man einmal festhalten, dass diese Ehrlichkeit vor allem Zeugnis für eine Überforderung der Machthaber ist. Zensur mag eine funktionierende Maßnahme für die Kontrolle der Massen sein – für die Kontrolle der Seuche erwies sie sich als unzulänglich. Die Offenheit ist also zunächst nichts mehr als ein Einbekennen des Scheiterns, der Hilflosigkeit der Führung. Sie ist Zeugnis davon, wie die Seuche das Regime untergräbt.

Ob dies ein Mehr an Demokratie in der Zukunft bedeutet, ist noch offen. Erstaunlich ist jedoch, dass gerade die Isolierung – jene der Individuen untereinander in einem Land, das jahrhundertelang als ganzes isoliert war –, der Stopp der Kommunikation, die Eindämmung der öffentlichen Sphäre solches bewirken soll. Das Bild des Mundschutzes wäre eine paradoxe Metapher für die Demokratisierung eines Landes. Bislang ist es jedoch nur ein Bild für einen neuen Naturzustand, in dem der Gesellschaftsvertrag angesichts von Kontingenz und Isolierung seine Relevanz zu verlieren scheint.