Sieg der totalen Gestaltung

Mit der Ausstellung zur Gruppe „Superstudio – Life Without Objects“ erinnert das Design Museum London an die italienische Architettura Radicale

In den 1960er-Jahre herrschte in Europa Aufbruchstimmung: Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg ging es den Alten wieder gut und den Jungen schien die Welt offen zu stehen. Massenkonsum und Massentourismus kamen in Gang. In dieser Situation formierte sich die florentinische Gruppe Superstudio, der im Londoner Design Museum eine erste Retrospektive ausgerichtet wird.

Zeitgleich mit der „Außerparlamentarischen Opposition“ gegen die hegemoniale Politik der großen Koalition hierzulande widersetzten sich die jungen Gestalter Adolfo Natalini und Cristiano Toraldo di Francia jenem flächendeckenden „Belle Design“, das zwar die Möbelindustrie florieren ließ, durch beliebige Stile aber den Anspruch der Architektur auf die Gestaltung eines besseren Lebens entleerte. Später stießen noch Alessandro und Roberto Magris dazu wie auch Alessandro Poli. Mit „The Continuous Monument“ erlangten sie 1969 schlagartig internationale Berühmtheit: Eine abstrakte, bandförmige Raumstruktur überlagerte erdumfassend und kraftvoll genauso Manhattan (aus ihren Öffnungen quollen die Hochhäuser heraus) wie sie das Tal von Graz als massives Viadukt durchquerte.

Der Bezug auf Bauten der römischen Ahnen lag nahe: zivilisatorische Infrastruktur als Heilsbotschaft. Doch hier stand sie weder für Wasserversorgung noch andere Dienstleistung, sondern war ironisch bis zur Vernichtung des Objekts überhöht – die konsequente Gestaltung des scheinbar nicht zu bremsenden Fortschritts entleibt ihren Gegenstand. Das unterschied das Projekt ganz radikal von der Vision „New Babylon“, die der niederländische Künstler Constant einige Jahre zuvor als realisierbares Modell der Lebenswelt konzipiert hatte. „Wir schlagen eine versteckte Architektur vor“, proklamierte Superstudio, „die nur ein Image für sich selbst und für unsere instrumentalisierbare Sprachlosigkeit ist.“ Mit großformatigen Collagen wurde die Vollendung einer in Wüste, Stadt oder Gebirge immer gleichen Architektur als Traum und Albtraum moderner Zeiten inszeniert: Als der Sieg über Natur und Historie zugunsten einer totalen Gestaltung.

Die Weiterentwicklung „Supersurface“ legte sich wie ein Folie über die Erdoberfläche, mal schauten Berge aus der Gitterstruktur heraus, mal schimmerten Häuser durch sie hindurch. In den Planquadraten sollte sich der moderne Nomade einloggen mit seinen „Fragmenten aus dem persönlichen Museum“, wie es in der legendären Ausstellung „Fragments From a Personal Museum“ in der Neuen Galerie Graz 1973 hieß. Die Images wandten sich vom gebauten Raum ab und visualisierten nunmehr die „fünf fundamentalen Akte: Leben, Bildung, Zeremonie, Liebe und Tod“. Architektur wurde über das Bauen zur Kritik, zu Philosophie, Leitbild und Parabel erweitert.

Der überwiegend immateriellen Arbeit von Superstudio trägt nun der vollständig schwarz gestrichene Raum im Londoner Design Museum Rechnung, in dem die großen Bildern, Storyboards und Zeichnungen scheinbar unbeschwert von physischen Randbedingungen schweben. Dazu gehören auch die 1972 in der Reihe „Restoration of Our Historic Centers“ vorgenommene Umwandlung der Kanäle Venedigs in gepflasterte Straßen. Die späteren, „baubaren“, im Übrigen erfolglosen Entwürfe der Gruppe, die sich Ende der 70er-Jahre auflöste, wie etwa das Projekt für den Frankfurter Römerberg, ließ das Design Museum zu Recht unberücksichtigt.

Die „Supervisionen“ charakterisieren den zeitgenössischen Willen der damaligen italienischen Bewegung „Architettura Radicale“, auch negative Utopien polemisch zu visualisieren. Das narrative Vermögen der Moderne zeigt sich nicht zuletzt in den von Superstudio ideell vervollständigten Ruinen des Collosseums oder der Korenhalle auf der Akropolis.

MICHAEL KASISKE

Bis 8. Juni, Design Museum London, Shad Thames. Ein Katalog wird bei Skira editore erscheinen