Jedes Wort sucht sich sein Bild

Brauchen Gedichte einen medialen Verstärker? Mit „Poem“ hat Ralf Schmerberg versucht, Lyrik zu verfilmen

Hochglanzbilder von nepalesischen Berglandschaften verbinden die Clips

Junge Mädchen rennen halb nackt durchs Wasser und wälzen sich an einem Sandstrand. Laute Elektronikmusik dröhnt aus dem Hintergrund, gut gestylte Jugendliche tanzen wild dazu. Unterlegt ist die Szenerie mit einer dunklen Männerstimme. Doch statt für Eiscreme oder Alkohol zu werben, rezitiert sie ein Gedicht von Hermann Hesse. Lyrik alleine reicht nicht mehr aus, um uns die Fantasiewelt eines Dichters zu eröffnen. Da muss schon ein Werbefilm her, der ihre verschlüsselte Form in eine vertraute Bildsprache überführt.

Genau diese Werbeästhetik entwirft Ralf Schmerberg in seinem Film. „Poem“ heißt dieser und setzt 19 Gedichte von Heiner Müller bis Georg Trakl in kurzen Episoden in Szene. Bekannte Schauspieler wie Jürgen Vogel oder Meret Becker dienen dabei als Emotionsträger, um den jeweiligen Gedichtkosmos kompatibel fürs Publikum zu machen. Schmerberg, einst Regisseur von Werbefilmen und Musikvideos, bedient sich dabei der unterschiedlichsten Methoden. Mal lehnt er sich an den Neuen Realismus à la Fassbinder an, etwa wenn Anna Thalbach die Streifzüge der Kamera durch spießige Interieurs mit den Worten „Glück ist ein verhexter Ort“ begleitet. Lyrikclips in grellen Farben und mit schnellen Schnitten erinnern an die Popästhetik des Fotografen David LaChapelle und gehen nahtlos in richtige Dokumentationen über. Die verwackelten Amateuraufnahmen von der Geburt eines Kindes werden ebenso von Gedichten begleitet wie die Aufnahmen eines österlichen Prozessionszuges.

Dabei erscheint das Gesehene oftmals dem Gehörten gegenläufig. Wenn Verse von Ernst Jandl mit Digicam-Bildern einer glücklichen Hochzeitsgesellschaft unterlegt sind, führt das Wort zur Destruktion des Bildes. Doch genau diese Spannung löst sich auf, wenn ein falsch verstandenes Pathos beschworen wird. Nicht tiefsinnig, sondern langweilig wirkt es, wenn Klaus Maria Brandauer im Spiel von Licht und Schatten in alter Mephisto-Manier Heine zitiert oder Luise Rainer schmachtend an einem Wasserfall Goethes Versen Leben einhaucht. Dieses Pathos kippt in Kitsch um, wenn eine schreiende Horde von nackten Männern und Frauen sich zu Schillers „Ode an die Freude“ mit Farbbeuteln bewirft.

Weitaus interessanter erscheinen die Episoden, in denen die Aura einer Berühmtheit nicht die Worte eines Dichters verdrängt, sondern sich dezent im Hintergrund hält. So etwa, wenn man Hannelore Elsners rauhe Stimme leise „Leben ist Wandlung. Jedes Ich sucht ein Du“ sagen hört. Tucholskys Liebesgedicht, seine Konjugationen des Nichtzusammenfindens, erfahren eine neue Dimension, wenn sie mit Bildern von einem amerikanischen Zwillingspaar in Vietnam gekoppelt werden. Diese sind blind. „Vorwärts getrieben vom Willen, ohne Erklärung und ohne Gruß“ ertasten sie sich die Sehenswürdigkeiten, um sie anschließend auf ihrer Liste abzuhaken. Ihre Unfähigkeit, zu sehen, meint zugleich ihre Unfähigkeit, das Land zu verstehen.

Dabei wird gerade durch die internationalen Schauplätze wie Rio de Janeiro, Island oder Andalusien das Gedicht zur Weltsprache hochstilisiert. Esoterik scheint dabei das richtige Mittel zu sein. Hochglanzbilder von nepalesischen Berglandschaften und meditierenden Buddhisten verbinden die einzelnen Clips miteinander. Manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, in einem Meditationsfilm zu sitzen: lyrische Berieselung mit vertrauten Bildwelten, die nicht überanstrengen. Dabei zielen sie – wie in der Werbung – stets auf eine emotionale Vereinnahmung des Zuschauers. Bleibt die Frage, ob Gedichte einen medialen Verstärker brauchen oder ob ihre Vielschichtigkeit unter der Fixierung auf die Bildwelt untergeht. AYGÜL CIZMECIOGLU

„Poem“, Regie: Ralf Schmerberg.Mit Meret Becker, Jürgen Vogel,Hannelore Elsner u. a. Deutschland 2002, 91 Minuten