Anna trauert um ihr Kind

Wenn sie auf dem Balkon stand, freute sie sich, wenn ihre Claudia dem Omnibus entstieg. Das Leben war in Ordnung, denn die Tochter wohnte bei ihr. Dann kam ein fremder Mann und nahm ihr Liebstes mit zu sich. Seither ist für Anna nichts wie früher. Keine Hoffnung, keine Zuversicht. Sie wird sich nicht umbringen, aber sie tut auch nichts mehr für sich. Warum auch? Nichts kann mehr werden wie einst. Eine Erzählung zum Muttertag

von ELISABETH WAGNER

Der Anrufbeantworter spricht von einem wir. Es ist die Stimme der Tochter, die klingt, als habe sie gerade lachen müssen. Das wir tut der Mutter gut, wenn sie es beim Abspielen der Nachrichten hören kann. Es lässt sie einen Moment vergessen, dass Claudia nicht mehr bei ihr lebt.

Der Entschluss hatte sich angebahnt. Sie zog zu einem Mann, der war ihr erster Freund, in ein Leben mit gemeinsamem Schlafzimmer, mit Küchenzeile und Pauschalreise ans Meer. Am Tag ihres Auszugs vor fünf Jahren brach die Mutter zusammen und konnte nur noch weinen. Nichts kann Anna seitdem trösten. Sie fühlt „tiefe Trauer“, ja, „große Bitterkeit“.

Ohne ihr Kind kann sie nicht glücklich sein, das Leben ist ihr nun eine einzige Anstrengung in Grau. Sie wiederholt „mein Kind“, und es klingt maßlos. Ihre Tochter soll zurückkommen. Alles wäre wie früher. „Nämlich schön.“

„Aber“, sagt Anna, „das geht nicht.“ Es wäre nicht normal, fürchtet sie. Sie verbietet sich den Wunsch, schweigt darüber und lässt die Tochter „in Ruhe“. Ein Rest von Hoffnung bleibt. „Andere Kinder leben doch auch zu Hause!“ Warum kann man nicht bleiben? „Für immer.“ Anna mag diesen Gedanken, er kommt ihr natürlich vor.

Sie ist klein, ein Meter sechsundvierzig, sie hat kurze, dunkle Haare. Der schwarze Rock ist aus festem Stoff, ein weiter, blauer Pullover umhüllt den Bauch. „Ich bin dick“, sagt Anna, „klein und dick.“ Sie legt den Kopf zur Seite, ihre Lesebrille hängt an einem Lederbändchen um den kurzen Hals. Anna lächelt, sie spricht leise und sanft wie ein Arzt, der die Ruhe des Patienten nicht stören will. Das Leben wärme sie nicht, sagt sie, es sei unerreichbar geworden, wie etwas, das die Fingerspitzen nur eben so berühren können.

Sie wolle eben nicht mehr so richtig, sagt Anna, habe keine Lust mehr, es soll nicht ewig dauern, „dieses Leben“. Umbringen werde sie sich aber nicht, nur eben nichts für sich tun.

Sie müsse dringend abnehmen, raten die Mediziner, ihre Knochen brauchen Schonung. Die Knie machen Schwierigkeiten, und „vieles andere auch“. Anna, siebenundfünfzig Jahre alt, mag sich nicht anstrengen, sie will sich gehen lassen, am allerliebsten „Wurst und Fett“ essen.

Am Grill holt sie sich Döner, ihr „Grundnahrungsmittel“, und hinterher bei „Nordsee“ einen Teller Fisch mit Kartoffelsalat. „Eine miserable Hausfrau“ sei sie, sagt Anna, kochen wolle sie nicht. Sie werde ja doch nicht satt. Leer fühlt sie sich, müde.

Vor gar nicht langer Zeit, da war das anders, da konnte sich jeden Moment der Schlüssel im Türschloss drehen, und das Kind konnte hereinkommen. Anna wachte morgens auf und war vergnügt, abends schlief sie ein und wusste: Das Kind ist nebenan. Wie oft stand sie auf dem Balkon, sah zur Bushaltestelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite und wartete. Sie blieb wach, bis die Tochter wieder nach Hause kam. Das war das Glück. „Jetzt ist es vorbei.“

Schuld ist der Mann. Dreißig Jahre älter ist er als ihr Kind, ein ehemaliger Polizist. Der Beruf passe zum ihm, sagt Anna. „Etwas Lautes“ habe er an sich, sie mag eben „zarte Menschen“. Sie und er wahren die Form, mehr nicht. Seine Fragen, seine Bemerkungen, die hilflosen Versuche der Annäherungen, die er während der wenigen Aufeinandertreffen anbringt, weist sie von sich. Zwischen ihr und ihm, „das ist gentleman’s agreement“, eine Übereinkunft, auf dass unnötige Schmerzen und schlechte Gefühle vermieden werden.

Die Routine beginnt sich einzuspielen. Vor Wochen hatte die Tochter Geburtstag. Vierunddreißig Jahre ist sie geworden. Sie feierte in einer Kneipe in der Stadt, die Mutter setzte sich zu den Freundinnen, damit sie nicht mit ihm reden müsse. Sie fürchtet, ihr Kind liebe diesen Mann. Die Tochter solle sich nicht abhängig machen, sagt die Mutter, nicht von einem Partner, einem alten dazu.

Sie wünsche sich für Claudia „ein junges Glück“, etwas mit Zukunft und Aussicht, eine Arbeit. Als die Tochter älter wurde, sagte die Mutter, dass es schön sei, eine Frau zu sein, weil Frauen Kinder gebären können. „Kinder“, sagt Anna, „sind das Beste im Leben.“ Ein Leben ohne Kinder will sie sich nicht vorstellen müssen.

Sie selbst konnte nie welche bekommen. Claudia ist das Kind ihrer Schwester. Die wurde mit zwanzig schwanger, ohne genau sagen zu können, von wem. Aus dem Krankenhaus entlassen, nahm sie ihr Kind für kurze Wochen mit nach Hause, dann schenkte sie es Anna.

Anna wird stumm, wenn sie an die Schwester denkt, ihre Zunge schwer und pelzig, wie von zu viel schlechtem Essen. Sie wisse nicht, warum ihre Schwester Kinder nicht lieben kann. „Innere Armut vielleicht“, sagt Anna. Sie wisse es nicht und wolle sich nicht hineinversetzen. „Großes Unglück“ sei in der Schwester, „tiefe Einsamkeit“. Dabei sei sie „ein lichter, blonder Engel“ gewesen. Ein schönes Kind. Die Großmutter mochte Kathrin besonders.

Die Mutter starb an Grippe, ein Schlaganfall tötete den Vater. Die Kinder waren noch klein, als das geschah. Anna war vier. Das Bild der toten Eltern hing über der Kommode. Anna wollte, dass man es abnehmen sollte. Es machte ihr Angst.

Still war’s in der Wohnung, die Großeltern waren schon alt. Der Großvater sorgte für das Familienleben. Niemand hatte Lust, sich ihm zu widersetzen. Er war „der höchste Kopf in der Familie“, sparsam und korrekt. Für nichts war sich der gelernte Schmied zu schade – hat die Wäsche gewaschen, eingekauft und geputzt. Buletten und Salat hat er hergerichtet, ist mit den Kindern ins Grüne gefahren.

In weißer Bluse und Röckchen spazierte Anna mit ihm um den Dorfteich. Die Großmutter wahrte Abstand zu dem „finsteren und brodelnden Kind“.

„Ganz früh bin ich dick geworden“, sagt Anna, im Sportunterricht musste sie sich quälen. Schaffte einen Purzelbaum und konnte nicht wieder aufstehen. „Die Eifersucht war ein Problem“, sagt sie, „und die Langeweile.“ Der Großvater, „der geliebte Mensch“, hat sie verstanden. Etwas an ihrer „anderen Art“ hat ihm gefallen.

Vielleicht war sie nie glücklicher als mit ihm. Er legte ihr die Hand auf die Stirn, wenn er wissen wollte, ob sie Fieber hatte. Das ist ihre schönste Erinnerung. Die Ruhe des Großvaters sickerte durch die Handflächen in sie hinein, und Anna wurde froh.

Einen Mann hat sie nicht gesucht. Sex wollte sie nie. Es blieb still in ihr. Manchmal versuchten Cousinen und Tanten sie dazu zu überreden, sich ein bisschen Mühe zu geben. Sie sollte mit zum Tanz, in die Cafés der Großstadt. Warum lief sie stattdessen andauernd allein ins Kino, verschwand nach dem Abendbrot in dunklen Sälen?

„Streng dich an“, hieß es, „auch du kannst jemanden finden.“ Anna wollte nicht. Die Wärme in ihr wurde niemals wärmer. „Hitze“ stieg nicht in ihr auf. Sie war zu müde, zu zart unter dem Fleisch.

Sie hatte Zweifel. Aber sie sprach nie laut über sie. Ein paar demütigende Untersuchungen musste sie über sich ergehen lassen.

Mehr als das Notwendigste brachte sie nicht in Erfahrung. Sie würde keine Kinder bekommen, das sagten die Ärzte deutlich. Was es aber genau war, warum sie so klein war, warum ihr oft die Kräfte fehlten, warum das Blut nicht kommen wollte – für all dies gab man ihr keine Erklärung.

Die Krankenkasse meinte, sie sei mittlerweile zu alt. Sie müsse es nicht mehr wissen. Der Gentest sei zu teuer in ihrem Fall. Ein Arzt war anderer Meinung. Höflich war er, bat Anna, ein paar Fotos machen zu dürfen. Sie durfte angezogen bleiben, musste nur ihre Füße und Hände herzeigen.

„Fürs Lehrbuch“, sagte der nette Arzt, und dann erklärte er ihr das Ullrich-Turner-Syndrom, bestimmte, dass sie anders als „die normalen Frauen“ nicht zwei X-Chromosomen, sondern bloß eines habe. Anna war beruhigt. „Jetzt hatte das Kind einen Namen.“

„Muttersein ist genug“, sagt Anna. Ein liebes Kind sei Claudia gewesen, „das süßeste Baby der Welt.“ Später hat Claudia gefragt, warum die leibliche Mutter sie hergab. „Wollte sie mich nicht?“ – „Doch, doch“, hat Anna ihr jedes Mal geantwortet, „aber ich wollte dich auch.“ Das war ein Trost.

Anna grübelt. Hätte sie auch das zweite, dritte und vierte Kind zu sich holen, trotz der Geldnöte bei sich aufnehmen sollen? Vielleicht hätte sie es geschafft, nachdem die Schwester auch für diese Kinder nicht sorgen mochte. Eines Tages hat Kathrin die beiden Jungen und das Mädchen im Kindergarten abgegeben und ist nie wiedergekommen. Sie floh. Anna blieb.

Seit über fünfzig Jahren lebt Anna in derselben Wohnung. Zwei Zimmer, eine Kammer. Die Eltern sind hier mit ihr eingezogen. Hier ist die Schwester geboren, hier starb die Großmutter. Ein Ofen steht aus dieser Zeit, die Kommode des Urgroßvaters haben sie und Claudia aus dem Keller wieder heraufgeholt. Anna kann nicht aufhören, an die Familie zu denken.

Sie arbeitet in einem Altersheim, sie kümmert sich um ihre Cousine. Abends nach der Arbeit wartet sie stundenlang auf den Schlaf, der sich nicht einstellen will. Zwei Wellensittiche leisten ihr Gesellschaft.

Als Kind hatte sie einen Wellensittich, erinnert sie sich. Der war krank. An den Strumpfhosen musste sich der kleine Vogel die Beine hochkämpfen, am Pullover entlang bis auf Annas Schulter. Dort saß er und konnte nicht weg.

ELISABETH WAGNER, 36, lebt kinderlos in Berlin