Dorf drinnen, Dorf draußen

Die Letten finden Anschluss an Europa – mit der TV-Show „Fabrika“, einer „Big Brother“-Variante. Das Land ist schockiert – und genießt das Spektakel

aus Riga BARBARA OERTEL

Bella kennen fast alle. Die schlanke, dunkelhaarige Frau Anfang dreißig ist eine der Mitspielerinnen in „Fabrika“, Lettlands bekanntester Reality-TV-Show. „Ich wollte sehen, ob ich so etwas überhaupt aushalte“, sagt sie.

Wenn aus der Fernsehfabrik gerade mal nicht live übertragen wird, führt Bella Besucher routiniert durch den fünften Stock des Sendegebäudes, von wo aus die lettische Variante von „Big Brother“ übertragen wird.

Bella kennt die Topografie der Showwohngemeinschaft genau. Das Schlafzimmer mit einem Dutzend zerwühlter Betten, der riesige Aufenthaltsraum mit mehreren Sitzecken, die Einbauküche, die vom Rest des Raumes durch eine Bar samt mehreren Hockern getrennt ist. Auch ein so genanntes Gefängnis zeigt die Kandidatin, eine Art Bambuskäfig – als Ort der Buße für jene Kandidaten, denen mal die Nerven durchgehen oder die sich schlecht benehmen. Daneben ein Badezimmer, eine Sauna und eine Toilette, alle jeweils mit einer Kamera ausgestattet.

„Am Anfang hatte ich ein komisches Gefühl“, sagt Bella, im normalen Leben als Verkäuferin tätig. Doch was ist schon normal. Für Bella und die anderen ist es Normalität, sich seit einigen Wochen bei Intimstem beobachten zu lassen. Doch Neugierde, die Hoffnung auf einen Neubeginn sowie der Traum vom großen Geld siegten bei allen „Fabrika“-Mitspielern über alle Scham.

Seit Monaten ist „Fabrika“ der Renner. Der regionale Privat-TV-Sender TV 5, der täglich neun Stunden seines neunzehnstündigen Programms mit Übertragungen – zumeist live – aus dem Innenleben der Wohngemeinschaft auf Zeit bestreitet, erreicht abends rund eine halbe Million Zuschauer – knapp ein Fünftel der lettischen Bevölkerung.

Die Regeln sind einfach, sie sind fast überall in Europa bekannt: Zwölf Kandidaten, meist aus einer Altersgruppe, werden für je drei Monate eingesperrt und aufeinander losgelassen. Wer am wenigsten gefällt, fliegt raus, jede Woche einer oder eine muss die Kommune verlassen. Wer übrig bleibt, bekommt neuntausend Euro, für lettische Verhältnisse ein kleines Vermögen.

Doch so ganz wollen die Macher von „Fabrika“ die Ereignisse nicht sich selbst und dem voyeuristischen Auge des Zuschauers überlassen. Vielmehr hat man pädagogische Ansprüche: hinabsteigen in die Untiefen des menschlichen Lebens, gnadenlos die Seele ausleuchten und dem Zuschauer dadurch zu neuen Einsichten über sich und seine Umwelt verhelfen. Dass so endlich auch Probleme zur Sprache kommen, die die sozialistische Moral jahrzehntelang tabuisierte und deren Existenz leugnete, liegt auf der Hand.

Um den Lerneffekt sicherzustellen, mischt sich mindestens einmal am Tag ein unsichtbarer Moderator ein – mit harmlosen Fragen, aber auch dem Versuch, die Teilnehmer in eine Diskussion hineinzuziehen. „Wir steuern das Ganze ein bisschen“, sagt Baiba Ripa, eine der Produzentinnen der Show. Und sie macht tüchtig mit: Von einem Nebenraum der Fabrik aus inspiziert sie das WG-Geschehen auf dem Bildschirm mehrere Stunden täglich.

Was der Moderator hervorzukitzeln nicht schafft, wird anders bewerkstelligt. Die Teilnehmer bekommen so genanntes Fabrikgeld, das sie für diverse Waren in der Fabrik ausgeben können. „Einmal wollten wir das Thema Alkoholismus behandeln“, sagt Baiba Ripa.

Prompt klappte das. Zwei der Teilnehmer investierten ihr Spielgeld so reichlich in das hochprozentige Angebot, dass sie schon am Nachmittag komatös in die Kamera lallten. Am selben Abend wurde der Rausch in der Fabrik gleich noch Diskussionsthema einer Expertenrunde, die je nach Art des vorliegenden Problems einen Vorfall in der Fabrik für die Zuschauer auf- und nachbereitet.

Beim Thema Alkohol fanden sich so der Gesundheitsminister, ein weiterer Vertreter der Gesundheitsbehörde sowie Repräsentanten verschiedener Selbsthilfeorganisationen vor der Kamera wieder. Auf den Studiotisch kam dabei so einiges: Alkoholmissbrauch am Arbeitsplatz, im Alter und besonders der Griff zur Flasche mit Hochprozentigem bei Jugendlichen.

„Die Stimmung war richtig depressiv“, erinnert sich die Programmdirektorin von TV 5, Gunta Lidaka. „Besonders bei dem Minister hatte man den Eindruck, dass er gar nicht versteht, was wirklich im Lande vor sich geht. Er stotterte herum und fühlte sich sichtlich unwohl. So bekam er mal einen anderen Eindruck von lettischer Realität.“

Auch das Publikum kam auf seine Kosten. Es weidete sich an den verbalen Pirouetten des Ministers und lauschte gespannt dessen unbeholfenen Erklärungsversuchen. Denn den meisten Letten ist das Problem aus eigener Anschauung gut bekannt – besonders am Wochenende, wenn Spaziergängern an fast jeder Straßenecke Rigas ein Betrunkener vor die Füße fällt.

„Der Gedanke dabei ist natürlich, bestimmte Situationen zu provozieren, damit die Sache etwas lebendiger wird“, erklärt Baiba Ripa. „Doch das Ganze ist ja nichts Ausgedachtes, es werden nur Probleme sichtbar, die jeder kennt und viele von uns sogar selbst haben. Lettland ist ein kleines Land. Ein Dorf sitzt drinnen, das andere eben draußen und sieht aus sicherer Entfernung zu.“

Doch manchmal ist die Eigendynamik in der Fabrik stärker als die Intervention von außen. So verliebten sich in einer von Bellas Vorgängerwohngemeinschaften spontan zwei MitspielerInnen ineinander. Die Liaison bescherte den Zuschauern nicht nur ein kaserniertes Liebesdrama in mehreren Akten, das durch den unfreiwilligen Abgang des Romeo zum Leidwesen vieler abrupt beendet wurde.

Wichtiger aber war, dass das Thema Sex in allen Einzelheiten, und diesmal nicht in eine Spielfilmhandlung eingebettet, im Fernsehen zur Sprache kam – Orgasmusschwierigkeiten, zu kleine Penisse, Silikoneinlagen ja oder nein … Eine Kost, die vor allem für ältere, auf realsozialistische Prüderie getrimmte Letten nicht leicht zu verdauen war.

„Klar polarisiert diese Show, aber das soll sie ja auch“, sagt Gunta Lidaka. „Wir sind doch nur der Spiegel für die Tendenzen, die in der Gesellschaft vorhanden sind. Und vielleicht kann das auch ein Weg sein, um bestimmte Erscheinungen in der Gesellschaft, wie das Alkoholproblem, anzupacken.“ Lidaka will ihr Publikum so lange weiter mit Episoden aus der Fabrik füttern, wie die Einschaltquoten stimmen. „Doch wir sind flexibel“, sagt sie. „Wenn’s nicht mehr läuft, dann ist eben Schluss.“

Andrejs Ekis, Direktor des konkurrierenden Privat-TV-Senders LTV, hat, wenn auch in etwas abgespeckter Form, ebenfalls die „Fabrik“ im Programm. Lapidar sagt er zur Substanz dieser und ähnlicher Sendungen: „Ich handle eigentlich mit Drogen und mache die Leute abhängig. Du verkaufst dem Zuschauer ein fremdes Leben, er guckt sich das an und kann seine eigenen Sorgen darüber vergessen.“

In Ekis’ Büro läuft ein Fernseher. Gleich kommt die Liveschaltung in die Fabrik. Dort herrscht Nervosität, denn heute ist Freitag, der Tag, an dem die Zuschauer per Votum einen der Kandidaten hinauswerfen werden.

Jeder überbrückt die verbleibende Zeit bis zum Verdikt auf seine Weise. Eine Frau umwickelt Würstchen mit Blätterteig, ein Mann malt mit Tusche große Kreise auf ein Stück Papier, zwei andere Kandidaten lehnen etwas gelangweilt an der Bar. Nur duschen oder saunen möchte so kurz vor der Liveschaltung keiner.

Auch Bella ist unruhig. Sie hat heute Geburtstag, Verwandte haben Blumen für sie abgegeben, und da in der Fabrik eine kleine Feier stattfand, sind auch die Zuschauer über das Ereignis im Bilde. Sollte Bella trotzdem heute aussteigen müssen, wird sie in der kommenden Woche wieder hinter ihrem Obstverkaufstresen stehen – wenn auch nicht um Geld oder Ruhm, aber um einige Erfahrungen reicher.

Sie wird wieder unbeobachtet auf die Toilette und unter die Dusche gehen können. Ob sie das freut? „Ehrlich gesagt, ich weiß es noch nicht.“

BARBARA OERTEL, Jahrgang 1964, ist taz-Redakteurin für osteuropäische Angelegenheiten