Die Verletzlichkeit des Menschen

Schneller sterben, schneller schreiben, schneller lieben, schneller lesen: Die Lesungen neuer Texte auf dem Stückemarkt, der das Theatertreffen in Berlin begleitet, standen deutlich im Zeichen des Katastrophischen

Der Betrieb ist gefräßig, dankbar aber ist er nicht

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Eines fällt auf: Auf dem Weg zur Selbstzerstörung sind sie ungeheuer effektiv. Die neuen Helden des Theaters, wie sie sich auf dem Stückemarkt, der das Theatertreffen in Berlin mit szenischen Lesungen begleitet, zeigen, trinken sich zu Tode, spritzen Heroin, und selbst wenn sie glücklich lieben wie in der Komödie „Zappen“ von Maja Das Gupta, treibt sie die Suche nach neuen Optionen aus der Geborgenheit wieder heraus. Die Verletzbarkeit des Menschen ist unbegrenzt – das ist eine Erfahrung, die fast alle Texte antreibt. Ihre Figuren leben im Zeichen des Katastrophischen, auch wenn die Katastrophe nicht stattfindet.

Sonntag nachmittags, die Sonne draußen lockte viel eher zum Liegen im Gras, wurden von sechs gebuchten Stücken die ersten vier gelesen. Man hört sie im Doppelpack, der Eintritt ist günstig, das Publikum jung, die lesenden Schauspieler gehören durchweg prominenten Ensembles an. Im großen Foyer des Hauses der Berliner Festspiele wurde dafür eine kleine Bühne installiert. Fast 180 eingesandte Stücke musste die Jury lesen; die Texte durften noch nicht aufgeführt worden sein und keinen Verlag haben. Die Zusammenarbeit mit einem Dramaturgen und einem Regisseur gab den Autoren Gelegenheit zu erfahren, was ihre Sprache anrichten kann, wenn sie auf fremde Körper und Gedanken trifft. Mitveranstalter dieser Autorenförderung sind das 1998 in Berlin gegründete Uraufführungstheater UAT und das Internationale Theaterinstitut.

Oft heißen die Figuren nur „Er“ und „Sie“. Ein realistischer Blickwinkel, aus dem sie in ihrem Elend beobachtet werden, bietet die erste Basis; aber weil sich dort keine Möglichkeit zur Veränderung finden lässt, heben die Autoren nicht selten auf surreale Ebenen ab, um ihre Figuren nicht auf ihren Problemen sitzen zu lassen.

In „Koala Lumpur“ von David Lindemann, einem 25-jährigen Studenten der Soziologie, bildet das Attentat auf das World Trade Center die Folie für eine Skizze ganz privater Neurosen. Das Merkwürdige aber ist, dass die Katastrophe selbst nur in ihrer Verleugnung eine Rolle spielt. Frau Schmidt und Max, Sekretärin und Praktikant eines Start-up-Unternehmens aus Deutschland, werden auf einem Campingplatz nahe New York im Dauerregen in ihren Zelt festgehalten. Ihr Ziel ist die Ersteigung des WTC, als ob die Türme noch stünden: ein Spiel mit den Metaphern von Höhe, Erfolg und Willen zum Aufstieg. Dabei verfolgt sie schon am Grund der Geruch der Katastrophe, der Rauch der Feuer, den sie als Nebel der Höhe missdeuten. Das Schlingern des Textes zwischen intimen Zustandsbeschreibungen und fantastischen Wendungen drängt die Geschichte aber in eine Ungreifbarkeit, die ihr schadet.

Auch in „Heimspiel“ von Ulf Schmidt kann nur das Unwahrscheinliche die Abwärtsbewegung stoppen. Das Stück ist kurz, knackig und schmerzhaft. Es beginnt am Nullpunkt, am Ende der Kommunikation, dort, wo die Sprache in Beschimpfungen zurückgeschrumpelt ist. Nicht mal mehr Punkte haben die Sätze: „er: halt die fresse sie: ich hab nichts gesagt er: halt deine schnauze sie: sonst noch was er: nein sie: fick dich“. Das ist die erste Szene, und von dort aus entwickelt Schmidt zügig eine Steigerung der Verletzbarkeit. „Er“ kämpft um sein letztes Recht, das Recht auf Selbstzerstörung. Es tut weh, diese Verschwendung von Energie zu sehen, die sich nur noch im Hass artikuliert.

Erstmals hat der Stückemarkt auch Autoren aus dem Ausland vorgestellt. In „Wo lebst du denn?“ von Ana Lasic wird diese Frage oft als Vorwurf, die Realität zu verpassen, wiederholt in einer Gruppe junger Leute, die sich in Belgrad für Silvester 1999 verabreden. Realismus ist in diesem Stück keine Frage der ästhetischen Form, sondern der Lebenshaltung. Heroin und der zurückliegende Krieg haben ihre Erfahrungsfähigkeit zerstört. Sie träumen von Glamour und hassen ihre 100-Mark-Jobs. Unentwegt reden sie, unentwegt verabreden sie sich, doch ihre Pläne reichen selten über den nächsten Kokskauf hinaus. Wo die Körper nur noch kollabieren, erscheint die Sprache oft als letzte Ebene, auf der sich die Liebe noch artikulieren kann. Im Mittelpunkt steht Isidora, eine junge Frau, umgeben von Brüdern, Freundinnen, Freunden und Liebhaber. Und keiner ist darunter, um den sie sich nicht sorgen muss. So ist „Wo lebst du denn“ auch die Geschichte einer allumfassenden Liebe, die von Angst aufgefressen wird, so heftig, bis keine Kraft mehr bleibt. Es ist ein anrührendes Stück in schnell geschnittenen Szenen, die der Atemlosigkeit dieses Lebens Ausdruck geben.

„Zappen!“ von Maja Das Gupta, die Dramatik und Prosa am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert hat, bewegt sich in einem ganz anderen Milieu von jungen Leuten mit Zukunft. „Sie“ erzählt ihre Geschichte, und ihre Probleme erscheinen wie Luxus: wie sie zwischen drei Liebhabern hin und her wechselt wie zwischen unterschiedlichen Fernsehprogrammen. Sie braucht den Wechsel, weil „beruhigt zu leben, beunruhigt mich zutiefst“. Sie schwärmt von der Schönheit der Anfänge, die sie immer wieder erleben möchte. Sprachlich ist das Stück durch das ständige Schalten zwischen Dialog und Kommentar interessant; es endet mit einem langem Prosatext, der die Geschichte anders weitererzählt und plötzlich aufscheinen lässt, wo sich in dem leichten Glück dann doch destruktive Abgründe verborgen haben könnten.

Tatsächlich musste sich die Jury durch viele Beziehungsgeschichten lesen: Das Private ist der Schauplatz, auf dem Verluste und Ängste verhandelt werden. Die Suche nach dem well made play hat die Schar der unbekannten Autoren eher motiviert als der Mut an Sprachexperimenten. Der Stückemarkt des Theatertreffens, gegründet vor 25 Jahren, ist älter als der Hype in großen Häusern, neue Autoren uraufzuführen. 150 bis 200 Uraufführungen zeigen die Spielpläne der Theater in Deutschland ungefähr in einer Spielzeit. Es gibt immer mehr Foren für Lesungen und Stückvorstellungen, Autorentage und Werkstätten. Der Betrieb ist gefräßig, dankbar aber ist er nicht. Zwischen dieser Dynamik und den Texten selbst hat sich eine eigenartige Analogie eingeschlichen: schneller schreiben, schneller lesen, schneller lieben, schneller sterben.