Am deutschen Wesen hat es nicht gelegen

Götz Alys Texte in „Rasse und Klasse“ sind ebenso hintergründig wie polemisch. Zudem kommt eine Frankfurter Zeitung sehr schlecht weg

Die Wehrmacht ließ sowjetische Kriegsgefangene „systematisch“ verhungern

Der Historiker und Publizist Götz Aly legt unter dem Titel „Rasse und Klasse“ Artikel vor, die zum größten Teil in der Berliner Zeitung erschienen sind, bei der er rund fünf Jahre lang Redakteur war. Einige Texte verdanken sich tagespolitischen Anlässen, andere bündeln Thesen zu Leitartikeln und gehen ins Grundsätzliche. Aly gelingt es in der Regel hervorragend, Einsichten und Zusammenhänge, die er als wissenschaftlich arbeitender Historiker zuvor in zahlreichen Aufsätzen und Büchern dargelegt hat, für das journalistische Alltagsgeschäft zu bearbeiten, ohne den Inhalt zu trivialisieren. Oft bieten die Zeitungsartikel historische Aufklärung im besten Sinne. Aly berichtet oft, aber nicht nur über die nationalsozialistische Vergangenheit.

Aly ruft etwa auch deutsche Vorkämpfer der Judenemanzipation in Erinnerung und zeigt, dass eben keine gerade Linie von der Judenfeindlichkeit Friedrichs des Großen zum mörderischen Antisemitismus der Nazis führt – auch wenn Friedrich dem Philosophen Moses Mendelssohn 1771 die Aufnahme in die Berliner Akademie der Wissenschaften verwehrte.

Etwas befremdlich erscheint in diesem Zusammenhang der Untertitel des Buches „Nachforschungen zum deutschen Wesen“. Denn der zielt genau in die falsche Richtung: Aly zeigt immer wieder, dass alle Versuche, „Auschwitz hauptsächlich auf das deutsche Wesen zurückzuführen“, sich mit Sicherheit als absurd erweisen. Das hat im Übrigen auch schon die Debatte um Goldhagens „Willige Vollstrecker“ nachdrücklich belegt.

Viel wichtiger ist eine andere These, die Aly hoffentlich später einmal in einem breiteren Rahmen ausführen wird: „Den Mord an den europäischen Juden wird nur begreifen, wer darin auch die extrem radikalisierten Grundmuster des europäischen Nationalismus im 20. Jahrhundert erkennt.“

Welche Dynamik der Nationalismus besitzt, erwies sich etwa in den osteuropäischen Staaten, wo sich nach 1989 soziale Fragen oft national drapierten. Aly verfällt jedoch nicht der „gleichsetzenden Reduktion von Rot und Braun“. Während alle kommunistischen Regimes ihre Herrschaft nur mit Gewalt und Terror sichern konnten, „blieb Hitler-Deutschland eine jederzeit mehrheitsfähige Zustimmungsdiktatur“. Sie setzte sich zusammen aus einer Mischung von „punktuellem Terror und Massenzuwendung“, die Stabilität garantierte, weil sie „Wirtschafts-, Sozial-, Rasse- und Kriegspolitik“ zu einem national kostümierten Pseudosozialismus verschmolz.

Gelegentlich scheut Aly auch nicht vor Polemik zurück. So zerzaust er das Machwerk, mit dem der Historiker Lothar Machthan „Hitlers Geheimnis“ als versteckte Homosexualität entlarven wollte, nach allen Regel der Kunst als bodenlose Spekulation und skandalträchtige Sensationsmache des angesehenen Verlegers Alexander Fest.

Historischer Aufklärung nicht dienlich sind dagegen gelegentliche leitartikelnd-grobschlächtige Zuspitzungen und Analogien. So vergleicht Aly einmal Ussama Bin Laden mit Ernst Jünger und versucht, über die beiden Autoren gemeinsame Verherrlichung von Opfern eine Brücke zu schlagen. Da hätte er ebensogut den für die Menschheit am Kreuz gestorbenen Jesus Christus als Beleg für Nekrophilie zitieren können.

Mit Recht allerdings erinnert Aly an Skandalgeschichten wie jene des Jenaer Arztes Jussuf Ibrahim, der an der Ermordung behinderter Kinder beteiligt war. Dieses Verbrechen war in der DDR vertuscht worden und erst nach 1989 nur dank der unermüdlichen Arbeit von Ernst Klee und der Jenaer Historikerin Susanne Zimmermann ans Licht gekommen. Ebenso verdienstvoll ist Alys Artikel über den Fall von 10.000 im Zuge der „Aktion T4“ ermordeten Berliner Psychiatriepatienten. Darüber berichtete der Schriftsteller Alfred Döblin bereits 1946 in aller Deutlichkeit in der Badischen Zeitung unter dem Titel „Fahrt ins Blaue“ – wie die Bustransporte von Berlin in die Zwischenanstalten in Brandenburg und in die südwestdeutschen Vernichtungsanstalten Grafeneck und Hadamar bezeichnet wurden. Von 1946 an dauerte es nochmals 43 Jahre, bis die Umstände der mörderischen Aktion aufgeklärt wurden. Die Haupttäter – Ärzte und Verwaltungsbeamte – waren zu diesem Zeitpunkt schon tot.

Ein Beitrag wirft ein bezeichnendes Licht auf die Zustände in der konservativen Presse. Im Januar 2002 erhielt Aly von den FAZ-Redakteuren Thomas Schmid und Volker Zastrow den Auftrag, die revidierte Fassung der Wehrmachtsausstellung zu besprechen. Aly vergleicht die beiden Ausstellungen, zählt Fehler der ersten auf und räumt auch eigene Irrtümer ein. Allerdings verweist er auch darauf, dass die revidierte Ausstellung eindeutig den Beleg erbringt, dass das „systematische Verhungernlassen“ (Aly) von sowjetischen Kriegsgefangenen und Zivilisten zur Strategie des Generalquartiermeisters des Heeres – Eduard Wagner – gehörte. Der hatte schon im November 1941 an seine Frau geschrieben, „dass insbesondere Leningrad verhungern muss“ – eine 3-Millionen- Stadt. Der Kommandant von Charkow äußerte sich ähnlich: „Die deutsche Wehrmacht hat am Unterhalt der Stadtbevölkerung keinerlei Interesse.“

Derlei wollte die FAZ, die bisssige Ressentiments gegen die Wehrmachtsausstellungen lancierte, lieber nicht drucken. Der Redakteur Zastrow teilte Aly mit, dessen Artikel sei „ein Kotau vor Reemtsma“ und entspreche obendrein „nicht dem Profil der Zeitung“. Derlei ist nicht ganz neu, zeigt jedoch das intellektuelle Niveau und das tatsächliche Profil des Frankfurter Blattmachers. RUDOLF WALTHER

Götz Aly: „Rasse und Klasse. Nachforschungen zum deutschen Wesen“, 254 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003, 19,80 €