Erinnerungen an Luisenlund

(Not) holding back the years: In den Achtzigerjahren war Mick Hucknall der Lieblingsstar hanseatischer Internatsschülerinnen, dann entschwand er im Nirgendwo der globalen Pop-Hautevolee. Eine sentimentale Reise zum Simply-Red-Konzert in Berlin

von ANDREAS MERKEL

Die sentimentale Reise geht zurück – wohin sonst!? – in die Achtzigerjahre. Wir mussten damals häufig Punktspiele gegen Luisenlund bestreiten, die Mannschaft eines Internats, das auf einem malerischen Gutshof im tiefsten Schleswig-Holstein untergebracht war. Die Tennisplätze lagen direkt neben Reetdach-Häusern, in denen die Mädchen wohnten, die dort zur Schule gingen: wunderhübsche höhere Töchter aus Hamburg, die in offenen Golf-Cabrios durch den Sommer fuhren und vor allem eine Band hörten: Simply Red.

Jene verhasste Band also um den, na ja, zumindest auffälligen Rotschopf Mick Hucknall, den weißen Sänger mit der „schwarzen Stimme“ (was ich nie ganz kapiert habe), die sich nach ihrem fulminanten Debüt „Picture Book“, bis heute ein Manifest des melancholischen Manchester-Pops, recht bald ins Nirgendwo der internationalen Pop-Hautevolee verabschiedete.

Aber was heißt hier Hautevolee? Mick Hucknall wurde der Freund von Steffi Graf und machte bald nur noch superschmierigen „weißen Soul“ (auch nie kapiert) für Dorfdisco-Stecher, der sich weltweit 48 Millionen Mal verkaufte.

Also müsste heute jede zweite Douglas-Verkäuferin genau vier Simply-Red-CDs besitzen, und die übrigen drei befinden sich in meiner Plattensammlung, auf die Nick Hornby zum Glück noch nie einen Blick geworfen hat.

Damit ist gleichzeitig das erwartbare Ü-30-Publikum beschrieben, das beim Simply-Red-Konzert am Montagabend Berlins Max-Schmeling-Halle immerhin gut zur Hälfte füllte. Dann geht dankbarerweise das Licht aus und Mick Hucknall betritt mit seinem 10-köpfigen (!) Orchester die Bühne. Er hat ja in diesem Frühling tatsächlich noch mal einen Hit gelandet: „Sunrise“ besitzt ein cleveres Hall-&-Oates-Sample und ist eindeutig die beste Simply-Red-Single seit „The right thing“ (1987). Es handelt von den Unwägbarkeiten der großen Liebe – „I don’t know if it’ even in your mind at all“ – und oszilliert wunderbar zwischen erfrischendem Aufbruch und melancholischem Abschied. Dazu gibt es ein Video, in dem Mick Hucknall himself auf einer mysteriös-dekadenten Model-Party zunächst den Fleischbeschauer, dann den abgehalfterten Performer gibt: noch verstörender als jeder David-Lynch-Film, noch ironiefreier als Robbie Williams’ Gesichtsausdruck in „Come Undone“!

Von solchen Abgründen und Ambivalenzen scheint Mick Hucknall live jedoch nichts wissen zu wollen. Eine kleine Überraschung: Er ist absolut zu seinem Vorteil gealtert, hat sich die fiesen roten Locken endlich abgeschnitten, trägt das weiße Hemd weit über dem Bauch und schubbert in Trainingshose und bequemen Puschen mit der Bodenständigkeit eines Joe Cocker über die Bühne. Ein freundliches „Guten Abend“ ins Publikum und los geht’s, „the new songs, the old songs, and hopefully all of your favourite songs!“.

Der stimmgewaltige Mick Hucknall und seine Band liefern ganz einfach ein großartiges Simply-Red-Konzert ab. Das Publikum geht begeistert mit, vor allem bei „the old songs“: „Come to my aid“ und „Holding back the years“, Hucknall allein zur akustischen Gitarre.

So kehrt man dann an diesem Abend von seiner sentimentalen Reise zurück. Die hübschen Hamburgerinnen hat niemand vermisst. Und die Punktspiele in Luisenlund haben wir übrigens alle verloren, gegen irgendwelche Weiße-Polohemden-Träger. Wir sind dann immer sehr melancholisch nach Hause gefahren, in unsere Achtzigerjahre-Kleinstadt. Simply Red im Ohr.