letzte ausfahrt brooklyn
: Mit viel Zeit und wenig Geld ins Spielerparadies

Smoke Gets In Your Eyes

New York ist nichts für arme Leute. Die Hochhausmassive von Downtown und Midtown Manhattan kann man sich auch als riesige Gebirge vorstellen, aus denen sich Geldbäche lösen, die schnell zu reißenden Flüssen werden und gigantische Dollarmengen in New Yorker Geschäfte, Restaurants, Clubs, Boutiquen, Schuhläden und Autohäuser spülen.

Für all diejenigen, die an den Hängen dieser Berge ihre Villen mit Anlegeplatz haben, ist das ein schönes Leben. Wer an keinen dieser Kanäle angeschlossen ist, dem bleibt nur der Blick vom Ufer. Oder er muss sich was einfallen lassen. Wie die Rentner von Chinatown und ihre Tagesbustouren nach Atlantic City.

Eigentlich gibt es nichts, was einen dorthin ziehen würde. Atlantic City ist eine Casinostadt vor den Toren New Yorks. Am Ozean gelegen, erheben sich dort ein rundes Dutzend Casinos von erlesener Hässlichkeit aus dem Strandsand, die aussehen wie umgewidmete gigantische Bunker, die zur Verteidigung gegen einen Angriff errichtet wurden, der nie kam. Doch der Grund, warum sich arme chinesische Rentner nach Atlantic City begeben, ist einfach: Die Busfahrt kostet 15 Dollar. Ist der Bus dann nach rund zwei Stunden in den Busbahnhof eines Casinos eingerollt und die Türen haben sich geöffnet, bekommt jeder Besucher von einer freundlichen Casinoangestellten einen 20-Dollar-Schein in die Hand gedrückt, um einen kleinen Anreiz zum Spielen zu geben. Damit ist man schon fünf Dollar im Plus. Wenn man wenig Geld und viel Zeit hat, ist das eine Rechnung, die aufgeht.

Es sind tatsächlich viele Dutzend Rentner, die sich jeden Vormittag in eine kleine Straße begeben, die an den Pfeilern entlangführt, die die Manhattan Bridge nach Chinatown hineintragen, und in einen der Busse steigen, die nach Atlantic City fahren. Die Busse sind immer voll besetzt. Sie fahren erst los, wenn kein Platz mehr frei ist, normalerweise dauert das lediglich eine Viertelstunde.

Die Gäste, die mitfahren, sind fast alle Chinesen: ein paar wenige Geschäftsleute, ein oder zwei junge Paare und ansonsten immer wieder Renterinnen und Rentner, von denen man vielen ansieht, dass sie ihr Leben lang viel gearbeitet und wenig dafür bekommen haben. Sobald der Bus losgefahren ist, packen sie ihren Proviant aus und entfalten ihre Zeitungen, in deren Überschriften sich samt und sonders das englische Wort SARS zwischen den chinesischen Schriftzeichen findet.

Nun könnte man sich, ist der Bus einmal angekommen und der 20-Dollar-Schein entgegengenommen, auch in den Wartesaal des unterirdischen Busbahnhofs setzen und darauf warten, dass die erste Tour zurück nach Manhattan geht. Doch dafür fährt man nicht nach Atlantic City. Und so begeben sich die Rentner allein oder in kleinen Grüppchen in die Spielsäle, wo ein überaus infernalischer Lärm herrscht. Da sind die Geräusche der Spielautomaten selbst, die piepen, kleine Melodien spielen und klingeln, wenn jemand einen größeren Gewinn gemacht hat. Dann ist da die Hintergrundmusik, die aus großen Lautsprechern perlt, die unter der Decke hängen. Und außerdem gibt es – zumindest im Tropicana-Casino – an der zentralen Bar noch eine singende Kellnerin, die zur Begleitung vom Band Standards wie „Smoke Gets In Your Eyes“ intoniert, während sie den Gästen ihre Drinks auf die Theke stellt.

Aber neben all den übergewichtigen weißen Männern in ihren besten Jahren, die mit stoischem Gesichtsausdruck einen Quarter nach dem anderen in die Slot-Machine stecken, neben den verhuschten Frauen, die durch die riesigen Säle der Casinos laufen, sich mal hier vor einen einarmigen Banditen setzen und mal da, bloß um wieder aufzustehen und es woanders zu probieren, als hätten sie sich den falschen Ort ausgesucht, um vor ihrer Spielleidenschaft zu fliehen, und neben den Grüppchen von Rentnerinnen, die bevorzugt zu dritt vor fünf Spielautomaten sitzen und ihre Eimer voller Münzen in die Schlitze entleeren – neben all diesen Menschen wirken die chinesischen Rentner wie die einzig Zurechnungsfähigen.

Gemessenen Schritts laufen sie durch die Reihen der Spielautomaten und schauen den Spielern zu, setzen sich auch mal auf einen der Drehstühle vor eine der blinkenden Maschinen, allerdings ohne manisch Geld einzuwerfen, ein paar Münzen vielleicht. Dort bleiben sie eine Viertelstunde, blicken um sich, lassen sich von einer der Kellnerinnen einen der kostenlosen Säfte bringen, um dann wieder aufzustehen und weiterzulaufen. In den Nachbarsaal oder an die frische Luft. Dort machen sie einen Strandspaziergang oder gehen zur presbyterianischen Kirche gegenüber dem Taj-Mahal-Casino, wo man Tag für Tag ein kostenloses Mittagessen bekommt.

Natürlich sind die chinesischen Rentner nicht wirklich gerne gesehen in den Casinos von Atlantic City. An ihnen lässt sich kein Geld verdienen, lieber sind den Casinobetreibern Gäste, die über Nacht bleiben, sich eine der abendlichen Shows anschauen und den Rest der Zeit an den Roulettetischen verbringen. Doch obwohl oder vielleicht gerade weil ihnen die Teilhabe an der dollarschweren Spielwut der Casinos verwehrt ist, dürften sie die Einzigen sein, für die Atlantic City tatsächlich den Glamour ausstrahlt, den zu glauben jedem schwer fällt, der das Geld hat, sich in ein Flugzeug zu setzen, um nach Las Vegas zu fliegen. TOBIAS RAPP