Gesten der Befreiung

Cannes Cannes (VI): Gus Van Sant macht aus dem Massaker von Littleton einen ruhigen Filmessay, Lars von Trier erzählt in seinem Festivalfilm davon, wie überheblich es ist, von Leiden zu erzählen

von CRISTINA NORD

Die Saaldiener wissen, was sich gehört. „Aber Mademoiselle“, sagt einer, als ich fünf Minuten zu spät Einlass zur Pressekonferenz Gus Van Sants begehre. „Sie sind doch eine professionelle Journalistin, also seien Sie auch so professionell, pünktlich zu erscheinen. Stellen Sie sich vor, alle kämen so spät wie Sie.“ Nachdem er mich gescholten hat, lässt mich der junge Mann die Absperrung passieren. Glück gehabt. Am Vorabend, berichten Kollegen, sei ihnen der Zutritt zu einer Galavorstellung von James Camerons „Ghosts of the Abyss“, einer Dokumentation zu „Titanic“, verwehrt worden, weil sie keine Fliege trugen. In Cannes freuen sich die feinen Unterschiede wie anderswo die Maden im Speck.

Auf dem Podium sitzen unter anderem Gus Van Sant, der Produzent Colin Callender, der Kameramann Harris Savides und drei der jungen Laiendarsteller. Einer von ihnen, John Robinson, hat genauso rote Wangen wie in „Elephant“, dem Film, der das Massaker an der Columbine Highschool in Littleton zu seinem Ausgangspunkt nimmt. „Wir wollten die Ereignisse nicht erklären“, sagt Gus Van Sant. Ihm sei es vielmehr um eine „poetische Impression“ gegangen, die weder Antworten noch Gründe für die Morde bietet.

Tatsächlich ist „Elephant“ – der Titel evoziert einen Film von Alan Clarke, der aus Schusswechseln zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland besteht – ein ruhiger, sorgsam fotografierter Filmessay, dem viel an der Erforschung des Raumes liegt. Wie ändern sich die Schulkorridore, je nachdem, aus welcher Perspektive man sie aufnimmt? Wie unterschiedlich kann die Bibliothek aussehen, je nachdem, wo die Kamera steht? Zu welchen Ensembles lassen sich Figuren im Raum gruppieren? Der Film folgt jeweils für einige Sequenzen einem der Schüler. An determinierten Raum-Zeit-Kreuzungspunkten biegt er dann ab, hin zu einer anderen Figur, die er für eine Weile begleiten wird. Chronologie interessiert Van Sant nicht, eher das System der Zeitverschiebung, das „Pulp Fiction“ inauguriert hat. Man hört, wie off screen eine Waffe geladen wird, lange bevor der erste Schuss zu sehen sein wird.

Dieses dissoziative Muster funktioniert ausgezeichnet, solange sich Van Sant an den Alltag der Schüler hält. Doch sobald die Täter ins Spiel kommen, wird es schwierig. Denn erstens ist nicht klar, warum es eines so großen Sujets bedarf, um aus Gesten, Körpern und Gesprächen von Highschool-Kids abstrakte Formationen zu gewinnen. Und zweitens liegt gerade in der Reduktion eine Gefahr: dass nämlich die wenige Information, die „Elephant“ zu den Tätern gibt, in ihrer Isoliertheit doppeltes Gewicht erhält. Was erfährt man über die beiden? Das, was jedermanns Vorkenntnis bestätigt: Der eine wird gehänselt, beide spielen die einschlägigen Computerspiele, sie bekommen die Schnellfeuerwaffen frei Haus, sie interessieren sich für Adolf Hitler, und sie küssen sich unter der Dusche. Es ist ja durchaus zu begrüßen, dass in „Elephant“, dem Spielfilm, die Kamera ratlos in den Himmel guckt, während der Dokumentarfilm, Michael Moores „Bowling for Columbine“, tausend Antworten aufeinander stapelt. Doch ganz ohne Antworten kommt eben auch Gus Van Sant nicht aus, und diejenigen, die er wählt, sind die nächstliegenden. Schmal ist der Grat zwischen Abstraktion und Mechanik.

Und was macht Lars von Trier? Er öffnet den Vorhang für das große moralische Theater, vor dessen Hintergrund er schon in „Breaking the Waves“ und „Dancer in the Dark“ Gott spielte. Es ist alles da: die fremde, verletzliche Frau, Grace mit Namen (Nicole Kidman), die Männer und Frauen, die aus der Schwäche der Fremden Nutzen ziehen, die Geldsummen, die den Wert einer Existenz markieren (als Belohnung auf dem „Wanted“-Zettel, der Grace gilt).

Die Parallelen reichen so weit, dass man während der ersten Hälfte von „Dogville“ in Kidmans Gesicht Björk wiederzuerkennen meint. Augenaufschläge, Drehungen des Kopfes oder die Art, wie sich Ponysträhnen in Wimpern verfangen: Van Trier scheint für seine Hauptdarstellerinnen ein mimisches Repertoire festgelegt zu haben. Und natürlich bleibt als Konstante, dass all der Ausbeutung nie widersprochen wird.

Das Wunder von „Dogville“ besteht nun darin, dass der Regisseur die bekannte Passionsgeschichte verfremdet, indem er ihr zahlreiche neue Ebenen einzieht, selbstreflexive, komische, entschieden antisentimentale. Als würde von Trier in den Kulissen seiner Theaterstadt sein bisheriges Oeuvre neu erfinden, erzählt er weniger von Moral und Leiden als davon, wie heikel und überheblich es ist, wenn er von Moral und Leiden erzählt. Am Ende harren zwei Gesten der Befreiung: Die weibliche Hauptfigur erschießt das Alter Ego des Regisseurs und rächt sich somit für alles, was Lars von Trier seinen Figuren je angetan hat. Und während David Bowie „Young Americans“ singt, bricht der enge Rahmen der Kulisse von „Dogville“ auf, um Platz zu machen für Jakob Holdts Fotografien des anderen Amerika.