Melancholie und Begehren

Wenig geschieht in „Aus heiterem Himmel“ von Diego Lerman und doch lernt man die Sehnsucht wieder

Marcia arbeitet in einem Geschäft für Dessous in Buenos Aires. Ihre Tage gehen ereignisarm dahin. Sie ist pummlig und lebensängstlich, ein Mauerblümchen, das eigentlich aus der Provinz kommt und dem nicht bewusst ist, dass sie auch schön ist. Irgendwann, nach der Arbeit, wird sie von zwei dünnen jungen Punkerinnen verfolgt. Die haben unbewegliche, irgendwie leicht melancholische Gesichter, schmale Lippen, kurze Haare und leichte Schatten unter den Augen. Die eine heißt Mao und sagt, dass sie mit Marcia „ficken“ wolle. Ihre Freundin heiße Lenin, sagt Mao. Marcia sagt nein und ist verunsichert.

Mao drängt weiter und zwingt Marcia schließlich mit vorgehaltenem Messer, zumindest auf einen Kaffee irgendwohin mitzukommen. Sie sitzen im Nichtraucherbereich. Mao erzählt schmutzige Witze. Marcia versucht mitzuhalten: Sie ist aber ganz schlecht im Witzeerzählen und wiederholt nur Sachen, die sie mal im Fernsehen gesehen hat; drittklassige Geschichten, in denen es um das Meer geht, in das sie mal einen Muskelprotz hatte gehen sehen, und dann schrie der plötzlich, ging aus dem Meer wieder raus und Piranhas knabberten an seinem Schwanz, der so klein war, und deshalb war das alles sehr komisch gewesen. Aber in Wirklichkeit ist Marcia noch nie am Meer gewesen und im Meer gibt es auch keine Piranhas.

Mao raucht immer Selbstgedrehte und legt sich mit einer Angestellten an, die ihr das Rauchen verbieten möchte. Marcia hat Verständnis für die Angestellte und sagt irgendwann, sie denke, Mao und Lenin hätten wohl noch nie gearbeitet. In diesem kurzen Moment ist sie, die ständig innerlich schwankt, unsicher, aber irgendwie doch neugierig ist, die nein sagt, aber doch zu fasziniert ist von den beiden Punkerinnen, um dies Nein auch unumstößlich zu meinen, plötzlich souverän.

Später nehmen sie ein Taxi. Irgendwann entführen die beiden Punkerinnen das Taxi und Marcia muss eine Augenbinde tragen und dann sind sie am Meer und glücklich, als sie ins Meer laufen.

„Aus heiterem Himmel“ ist ein unglaublich schönes, lakonisches und melancholisches Road-Movie, das zuweilen ein bisschen an Jim Jarmushs „Stranger than Paradise“ erinnert, aber nicht so stylish ist. Geredet wird nicht viel, aber auch wieder nicht so wenig, dass es zur Pose wird. Auf der Rückfahrt in dem geklauten Taxi ist das Benzin plötzlich alle. Die drei trampen dann weiter ohne wirkliches Ziel; nur ab und zu noch sagt Marcia, sie müsse jetzt aber eigentlich zurück nach Buenos Aires zur Arbeit und dass das nicht ginge.

Schließlich landen die Heldinnen in einer Kleinstadt bei Bianca, einer entfernten greisen Tante von Lenin, die zusammen mit einer Malerin und einem Biologiestudenten wohnt. Dort wohnen sie ein paar Tage.

Es geschieht nicht viel – Mao gelingt es endlich mit Marcia zu schlafen und beide genießen es. Nach dem Sex rennt sie weg und Marcia fühlt sich traurig und verlassen, denkt daran, dass sie immer verlassen wurde, und zerreißt ihre Kleider.

Wunderbar sind die alltäglichen Unterhaltungen; gedankenvoll die alten Zimmer, und großartig ist die alte, zarte Tante, wenn sie mit ihren Hühnern spricht oder mit einer Freundin billigen Likör trinkt und sie sprechen über die Liebe. Bianca raucht mit großer Eleganz ihre Zigaretten. Besonders die Mitternachtszigarette ist ihr heilig. Weil Mao, die Punkerin, eigentlich Melancholikerin ist, will sie unbedingt auch mit dem Biologiestudenten ficken. Der lehnt das ab und sie muss eine Weile kotzen.

Melancholie und Begehren gehören zusammen; so genau hat das schon lange kein Film mehr beschrieben, und das, was geschieht, ist schön. Die Charaktere sind stimmig und nichts wirkt aufgesetzt oder posenhaft in dem vielfach preisgekrönten Low-Budget-Filmdebüt von Diego Lerman, das sehr traurig endet. DETLEF KUHLBRODT

„Aus heiterem Himmel“. Regie: Diego Lerman. Mit Tatiana Saphir, Carla Crespo, Verónica Hassan. Argentinien 2002, 94 Min.