Ein Gewebe aus Löchern

Der Verlust der Erinnerung wird zur Versuchsanordnung für den Neuanfang: Mit „Visitors Only“ gastiert die Choreografin Meg Stuart in Berlin. Immer feiner wird die Analyse des Körpers

Die Katastrophe bedeutet das Ende der Erinnerung: was es hieß, Mensch zu sein

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Erdbeben kündigen sich so an. Oder sich nähernde Panzerketten. Die Tassen im Regal fangen plötzlich an zu zittern. Große Bilder zitternder Tassen erscheinen auf den Wänden des aufgerissenen Hauses, das die Choreografin Meg Stuart zum Schauplatz ihres neuen Stücks „Visitors Only“ gemacht hat. Das Zittern der Dinge ist wie ein Nachklang der Katastrophe, die dieses Haus so zugerichtet hat: Fassade weggesprengt, Fußböden angehoben bis zur Höhe der Türklinken, Wände durchbrochen. In den Dingen, die im Bühnenbild von Anna Viebrock und den Videos von Chris Kondek ein Eigenleben führen, steckt noch die Erinnerung an die Angst. In den acht Figuren dagegen, die sich zwei Stunden lang durch diese Reste bewegen, scheint jedes Programm gelöscht.

Die Katastrophe bedeutet das Ende der Erinnerung: was es hieß, ein Mensch zu sein und sich in seinem Körper und im Umgang mit den Dingen auszukennen. Das aber ist in „Visitors Only“ zugleich ein Spiel und eine Versuchsanordnung: Alles noch einmal auf Anfang. Die Öffnung einer großen Tasse stülpt sich in der Projektion wie ein gebärender Mund über einen Körper, der gerade, wieder einmal nur mit großer Mühe, durch eine der vielen Türen kommt. Ein surreales und erotisches Bild, im ruckelnden Rhythmus einer Slapstick-Komik, wie man sie von alten Filmen kennt.

Seit zwei Jahren ist die amerikanische Choreografin Meg Stuart als artist in residence dem Schauspielhaus Zürich assoziiert, und plötzlich marthalert es in ihren Produktionen. Das verlangsamte Tempo, das Anhalten der Bilder und eine Komik, die von einer fehlgesteuerten Mechanik der Körper herzurühren scheint, mildern ihre Bewegungssprache. Ihr letztes Stück, „Alibi“, war erschütternd in der Durchquerung von Extremsituationen, von Körpern außer Kontrolle, von manipulierten Emotionen. Im Zittern und im Abschütteln des Zusammenhalts der Wahrnehmung knüpft „Visitors Only“ an diese Zustände der Panik an; aber nicht mehr Schmerz und Aggression stehen im Vordergrund, sondern eher eine Rekonstruktion des Selbst. Stammelnd und stolpernd ist diese Bewegungssprache, anrührend in ihren Irrtümern und falschen Zusammensetzungen.

„Alibi“ war letztes Jahr an der Schaubühne Berlin zu Gast, mit „Visitors Only“, das Anfang Mai Premiere in Zürich hatte, startet die Zusammenarbeit zwischen der Volksbühne Berlin und Meg Stuart. Schon diese Konkurrenz markiert den Stellenwert der Choreografin, die auch für die Theatermacher immer wichtiger wird. Ihre Kunst, Energien zu streuen, in jedem der acht Zimmer des Hauses auf der Bühne andere Geister spucken zu lassen und dann das Bild wieder zu bündeln, kleinteilige Puzzelstückchen und große Bewegungsbögen wieder zusammenbringen, ist eine große kompositorische Leistung.

Dabei ist „Visitors Only“ ein Stück über Verluste und Fehlstellen, gestörte Wahrnehmung und brüchiges Bewusstsein: ein Gewebe aus lauter Löchern. In der Dissoziation der Bewegungsimpulse, im Zerfetzen der Sprache ähnelt es der zeitgleich herausgekommenen Produktion „Decreation“ von William Forsythe in Frankfurt. Woher aber kommt dieses große Interesse der Choreografen an dem Zerfall? Das sind nicht nur postmoderne Theorien, multipliziert mit den Stimmungen öffentlicher Erregung und Hysterie, die dort zu neuen Transformationen des Körpers führen.

Es scheint vielmehr, dass mit der wissenschaftlich neu aufgebrochenen Debatte, wieweit sich die Identität des Menschen in seinen Genen und seinen biologischen Fakten ausmachen lässt, auch die ästhetischen Instrumente der Analyse des Körpers zunehmend genauer eingestellt würden. Bewegungen werden aufgesplittet und Muskel für Muskel, Sehne für Sehne befragt, wieweit ihre Reaktion kulturell kodiert ist und von Erinnerungen belegt. In „Alibi“ hat eine Aufladung durch einen Sturm emotionsgeladener Bilder die Körper der Performer fast zerfetzt; in „Visitors Only“ dagegen sind sie oft von einer gallertähnlichen Spannungslosigkeit, schwankend und taumelnd, als ob im inneren Aufbau alle Leitungen durcheinander geraten wären. Mit solchem Loslassen dennoch auf der Bühne gegenwärtig zu sein, ist schon ein starkes Stück.

Gegen Ende gibt es eine lange Szene, in der sich in den hinteren vier Zimmern je zwei Tänzer drehen. Man blickt durch schmale Wanddurchbrüche hinein, die dem Bild teils die Köpfe, teils die Füße abschneiden. In jedem Ausschnitt ist die Form, die sich umkreist, anders – unendlich scheint das Spektrum, wie zentrifugale und zentripetale Kräfte in Beziehung treten können und Schnittpunkte erzeugen. Das ist Walzer in höchster Potenz.