Hallo vom Mars

26 Songs gehen in Riga heute abend beim Grand Prix an den Start. Wird schon wieder Osteuropäisches gewinnen? Oder endlich mal Malta? Und wo landet Lou? Prognosen und andere Irrtumschancen

von JAN FEDDERSEN und IVOR LYTTLE

1. Island: Birgitta mit „Open Your Heart“. Frischer Auftakt des Abends: Die 25-Jährige, ästhetisch geprägt als Frontfrau der Punkband Botnledja, singt ihren Song extrem entschlossen – weil Frau Haukdal weiß, worauf es ankommt. Endet entweder weit hinten oder ganz weit vorn.

2. Österreich: Alf Poier mit „Weil der Mensch zählt“. Der 36-jährige Hänfling aus der Steiermark ist Humorfreunden („Quatsch Comedy Club“) auch hierzulande bekannt. Poier ist Österreichs Antwort auf Guildo Horn. Er singt von Stofftieren, Dromedaren, Katzerln und Bratzerln – und, erstmals in der Geschichte des Grand Prix, von Kakerlaken. Allein: Die Startnummer zwei hat noch nie gewonnen.

3. Irland: Mickey Heart mit „We’ve Got The World Tonight“. Grand Prix ist, wenn alle tapfer singen und am Ende Irland gewinnt. Wie Mickey Heart, der in einer Superstar-ähnlichen Castingshow ausgesucht wurde, die siegreiche Eurovisionsgeschichte des Landes um ein weiteres Kapitel zu ergänzen. Allein: Es klingt wie eine miese Kopie von „Fly On The Wings Of Love“ der Olsenbrüder.

4. Türkei: Sertab Erener mit „Everyway That I Can“. Ohne Vorentscheidung wurde Popdiva Sezen Aksus Schützling nominiert – das Land träumt nun davon, wenn schon nicht in die EU, so wenigstens in die Hall of Fame der Eurovision einzugehen: Ob ein Sieg aber mit dieser Orientaldisconummer gelingt, darf bezweifelt werden: Es klingt letztlich nicht gefällig genug.

5. Malta: Lynn mit „To Dream Again“. Ach, Malta. Was hat es nicht alles unternommen, um die Eurovision einmal auf seinem Boden auszutragen. So halten sich gar hartnäckig Gerüchte, Jurys seien bestochen geworden. Wie dem auch sei: Lynn wird mit dieser ästhetischen Verbeugung vor den deutschen Schlagerparaden der Siebziger nicht landen können.

6. Bosnien-Herzegowina: Mija Martina Barbaric mit „Could It Be“. Typisch Balkan: Aggressives Stilmosaik, das nach Einerlei klingt. Oberteilentblößte Männer auf der Bühne, eine Sängerin, die scheinerotisch die Zähne fletscht – gruselig alles in allem. Gut fürs Mittelfeld, weil es Punkte aus den Nachbarländern geben wird.

7. Portugal: Rita Guerra mit „Deixa-me sonhar“. In ihrer Heimat bekannte Sängerin, die lockige Haare trägt und dazu einen tragödischen Gesichtsausdruck und ein bodenlanges Kleid. Hat Portugal keine besseren Acts?

8. Kroatien: Claudia Beni mit „Vise nisam tvoja“. Noch so eine vom Balkan, die glaubt, mit unzüchtigen Andeutungen würde die Männerwelt zu den Telefonhörern greifen, als sei die Eurovision kein Songwettbewerb, sondern eine Bewerbungssendung für Peepshows.

9. Zypern: Stelios Constantas mit „Feeling Alive“. Wie ein Muttersöhnchen sieht er aus: abstoßend. Alles in allem ein wimmerndes Winseln um Punkte.

10. Deutschland: Lou mit „Let’s Be Happy“. Typisch deutsch, weil das Lied sich bei allen Ländern anbiedert – ein bisschen Disco, ein wenig Homo, ein wenig Schunkeligkeit. Besser als Corinna May (Platz 21) wird sie wohl abschneiden, denn sie muss auf der Bühne kein Kaninchenfell tragen.

11. Russland: t.a.T.u. mit „Ne ver’. Ne bojsia“. Die internationalen Stars des Abends, ohne Zweifel. Bekannt aus Bravo und MTV. Angeblich lesbisch. Sehr flottes Lied. Auf Anhieb wiedererkennbar. Aber sind die beiden auch Favoritinnen? Hier droht womöglich die Baccara-Falle von 1978: Viele Hitparadenplatzierungen garantieren nicht den Sieg. Spannend auch: Wie werden die südosteuropäischen Völker, die auf westlich inspirierte Freizügigkeit nicht stehen, reagieren?

12. Spanien: Beth mit „Dime“. Noch eine Favoritin. Hat sich bei der „Operacíon Triunfo“ durchgesetzt, dem TV-Megaereignis Spaniens. Resultat: Das Lied wird garantiert der Sommerschlager an allen spanischen Stränden. Obendrein trägt die Sängerin eine rastafariähnliche Frisur – was als Referenz an die globalisierungskritische Mode zu nehmen ist. Sehr favorisiert.

13. Israel: Lior Narkis mit „Words For Love“. Gute Laune aus Tel Aviv: Solche Lieder hat Israel nicht oft zur Eurovision geschickt. Aber es hört sich ein wenig zu leichtgewichtig an: Keine Sekunde während seiner drei Minuten hat man das Gefühl, dass es unbedingt er sein muss, der ganz oben landen sollte.

14. Niederlande: Esther Hart mit „One More Night“. Mitklatschnummer. Und etwas zu seicht und anspruchslos. Nichts für einen Abend, der mit einer großen Geste beschlossen werden soll. 28-mal singt sie „One More Night“: Das ist einmal zu viel. Wird im Mittelfeld landen, wahrscheinlich.

15. United Kingdom: Jemini mit „Cry Baby“. Seit per TED abgestimmt wird, ist die große Zeit des Vereinigten Königreichs vorbei. Das britische Duo wird sie nicht zurückbringen: Der Song klingt irgendwie spanisch und so gar nicht nach einem Land, das die Beatles und Petula Clark hervorgebracht hat.

16. Ukraine: Olexander Ponomarjow mit „Hasta la vista“. Superstar in seinem Land – ausgesucht für die Premiere seines Landes beim Grand Prix. Text und Komposition stammen vom gleichen Paar, das auch Dana Internationals „Diva“ produziert hat. Kandidat fürs hintere Mittelfeld.

17. Griechenland: Mando mit „Never Let You Go“. Hätten Melina Mercouri und Cher ein gemeinsames Kind, würde es wie dieser griechische Star aussehen. Wenn man Mando nur hört, würde man nicht mehr auf einen Sieg tippen. Pseudodramatisch, nicht mehr. Hinteres Mittelfeld.

18. Norwegen: Jostein Hasselgard mit „I’m Not Afraid To Move On“. Der einzige, der es mit einer Peter-Skellern-artigen Ballade probiert: In seinem Land war das Publikum entzückt über den Newcomer, der trotz bodenlappenähnlicher Frisur so scheu und fragil gucken kann. Könnte gewinnen.

19. Frankreich: Louisa mit „Monts et merveilles“. Das Kind algerisch-italienischer Eltern singt das schönste Weltmusikchanson des Abends. Ein Potpourri, das so simpel wie geschmackvoll funktioniert und etwas angenehm Fließendes hat. Die schönste Frau des Abends: Sonderpunkte für die unaufdringliche Art, verloren in die Kameras zu schauen. Könnte auch gewinnen.

20. Polen: Ich Troje mit „Keine Grenzen – Zadnych granic“. Friedenshymne, vorgeschlagen von unseren östlichen Nachbarn. Tophit seit Wochen, gesungen in Polnisch, Russisch und Deutsch. Aber was vor sechs Wochen noch haushoch gewonnen hätte, wirkt heute eine Spur gestrig: Trotzdem hätte Troje den Sieg verdient. Denn Europa wird sich in dem Lied wiedererkennen: Frieden um jeden Preis!

21. Lettland: F.L.Y. mit „Hello From Mars“. Zwei Männer und eine Frau singen wie Abba. Und dann sehen sie noch schön aus, sehr sauber, sehr korrekt. Das ist leider nicht sehr erotisch. Aber auf diese Masche hatten 1984 auch die drei Jungs der schwedischen Herrey’s gesetzt – und gewonnen. Favoriten wegen des harmonischen Flows.

22. Belgien: Urban Trad mit „Sanomi“. Skandal in Brüssel. Die Gruppe war schon nominiert, als der Geheimdienst aus seinen Akten zitierte: Sängerin Soetken Collier soll in ihrer Jugend auf neonazistischen Veranstaltungen gesungen haben. Fräulein Collier muss deshalb zu Hause bleiben, trotz bereuter Jugendsünden, und eine Kollegin singen lassen. Belgien ist offenbar moralisch noch rigider als Deutschland. Das Lied? Nett. Die Band hat eine Fantasiesprache erfunden und nennt sie Sanomi.

23. Estland: Ruffus mit „Eighties Coming Back“. Der Frontmann der Band singt wie Joe Jackson, was kein Kompliment sein muss. Unglücklich die Titelwahl, denn man weiß nicht, weshalb die Jungs die Achtziger wiederhaben wollen – einige von ihnen waren da eben erst geboren worden. Nicht chancenlos!

24. Rumänien: Nicola mit „Don’t Break My Heart“. Nicola klingt wie das Gegenteil von Transsylvanien – rockig, möglicherweise eine Spur zu rockig für die Eurovision. Bonnie Raitt hätte ihre Freude an ihr. Lebenslustige, wunderbare Sängerin: Ihr Risiko, offen zu bekennen, gewinnen zu wollen, darf nicht allzu hart bestraft werden.

25. Schweden: Fame mit „Give Me Your Love“. Zwei blonde Menschen, Mann und Frau, sehen aus wie Lebensbornprachtexemplare und singen wie Abba minus Sexappeal. Langweiliger Plunder aus Stockholm.

26. Slowenien: Karmen Stavec mit „Nanana“. Die Favoritin, die aber auch schwer abstürzen kann. Sie hat das richtige Wegbeißpotenzial – nur eine kann gewinnen, und die will sie sein. Karmen wuchs in Berlin-Friedenau auf, und man darf darauf vertrauen, dass sie weiß, wie man Rivalinnen lächelnd zur Seite schubst. Sie steht auf der Bühne und benutzt die Kameras wie ein Sexobjekt. Die Titelzeile ist geschickt gewählt: 1968 gewann „La La La“.

JAN FEDDERSEN, 45, taz.mag-Redakteur und Autor des Buches „Ein Lied kann eine Brücke sein“, lebt in Berlin; IVOR LYTTLE, 43, gibt das englischsprachige Grand-Prix-Fanmagazins EuroSong News heraus und lebt in Bremen