Wir Väter, Erben Abrahams

Patriarchal ist das jüdisch-christlich-muslimische Konzept vom Vatersein, das in die Kultur der monotheistisch geprägten Zivilisationen eingewoben ist. Dabei gibt es auch biblische Gegenentwürfe zum strengen Pater familias. Ein Essay zum Vatertag im Zeichen des Ökumenischen Kirchentags

von PHILIPP GESSLER

Es ist eine brutale Geschichte: Ohne jegliche Vorwarnung oder Begründung fordert der Herr von Abraham, dem Stammvater der Juden, Christen und Muslime, vor tausenden Jahren laut Genesis 22, 2: „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak, geh in das Land Morija und bring ihn dort auf einem der Berge, den ich dir nenne, als Brandopfer dar!“ Welch herzlose Forderung, und wie sklavisch die Reaktion Abrahams: keine Weigerung, keine Empörung, nicht einmal eine Nachfrage.

Stattdessen spaltet Abraham klaglos und pflichtbewusst das Holz für das Brandopfer und lässt das ahnungslose Opfer, seinen Sohn Isaak, selbst das Holz drei Tage lang auf dem Marsch nach Morija schleppen. Nicht einmal ehrlich ist Abraham zu ihm: Kurz vor der Ankunft auf dem Opferberg weicht Abraham der Frage des Sohnes aus, was denn nun geopfert werden solle. Stattdessen bindet er Isaak fest und hebt ihn auf einen zuvor errichteten Altar. Schon zückt er das Messer, um seinen Sohn zu „schlachten“, wie es heißt – da endlich entbindet der Herr Abraham von dem Auftrag, sinnlos sein Liebstes auf Erden zu opfern. Was ist das für ein Gott?! Was ist das für ein Vater?!

Wir sind alle Erben Abrahams, des Patriarchen – und patriarchal ist das jüdisch-christlich-muslimische Konzept vom Vatersein, das in die Kultur der monotheistisch geprägten Zivilisationen eingewoben ist. Als Ort, darüber nachzudenken, was dies bedeutet, böte sich der anstehende Ökumenische Kirchentag an – unter anderem, weil dabei hunderte christliche Väter in Berlin am zweiten Tag des Treffens Christi Himmelfahrt feiern: eher bekannt als „Vatertag“.

Unwahrscheinlich, dass diese Väter den seltsamen Feiertag, noch künstlicher als der Muttertag, traditionell mit Leiterwagen und Bierkästen darauf begehen. Sie tun gut daran, denn am „Vatertag“ enthüllt sich nach einigen Bieren in der Regel viel, was das unschöne Geschlecht noch abstoßender macht: die Neigung zu schlechten Witzen, Herdentrieb, Frauenfeindlichkeit, Stumpfheit, im schlimmsten Fall Brutalität. Dabei tritt am „Vatertag“ unter bestimmten Bedingungen nur zutage, was sonst bloß verdeckt ist. Es gibt beim „Vatertag“ nichts, zumindest nicht viel zu feiern.

Viele Vorstellungen der monotheistischen Religionen von der Rolle eines Vaters haben, angefangen mit dem Patriarchen Abraham, etwas trostlos Liebloses, herzlos Unzärtliches und latent Frauenfeindliches: Gerade in den wichtigen ersten Geschichten der Bibel erscheint der Vater kaum mehr als der Ernährer der Sippe, der mehrere Frauen hat, geradezu zwanghaft nach einem männlichen Erben strebt und sein Geschick schon so gut wie erfüllt sieht, wenn es ihm gelingt, einen zu zeugen – und sei es mit hundert Jahren wie bei Stammvater Abraham, in Genesis 21, 5–7 nachzulesen. Lächerlich ist dieses Streben nach dem Sohne, und zu Recht lacht Abrahams Frau Sara über solch maßlose Zeugungswut, die Zweifel an Abrahams Manneskraft durchaus impliziert: „Jeder, der davon hört, wird mit mir lachen. Wer, sagte sie, hätte Abraham zu sagen gewagt, Sara werde noch Kinder stillen? Und nun habe ich ihm noch in seinem Alter einen Sohn geboren.“ Der Ruf Gottes, Abrahams Berufung, ist dem Stammvater wichtiger als sein Sohn. Dass uns heutigen Vätern häufig der Beruf wichtiger ist als die Familie, passt gut ins Bild.

Der monotheistisch geprägten Vaterrolle folgend, besitzt die Mutter noch heute in der Regel das Gefühlsmonopol. Das hebräische Wort für Erbarmen rachamim kommt von rächäm, was Mutterleib bedeutet. Strenge dagegen herrscht beim Vater – bis zu der Geschichte über den israelitischen Führer Jiftach (Richter 11, 29–40), der, einem Gelübde gegenüber Gott folgend, sein einziges Kind, eine Tochter, als Dank für den Sieg über die Ammoniter opfert. Auch hier nur wenig Zögern und Klagen. Die Tochter fordert ihren Vater gottesfürchtig sogar dazu auf, sein dummes Versprechen einzulösen. Als einzige Gnade erlaubt er ihr noch, zwei Monate lang mit ihren Freundinnen in den Bergen „ihre Jugend zu beweinen“. Danach opfert Jiftach seine Tochter, wobei die Erzählung Wert auf die Feststellung zu legen scheint, dass sie bis zu ihrem Tod „noch mit keinem Mann Verkehr gehabt“ habe. Sicher: Solche „Wandermythen“ genannten Geschichten kommen auch in anderen Kulturen des Nahen Ostens vor – dass sie jedoch auch in die jüdisch-christliche Tradition übernommen wurden, spricht Bände.

Dabei gibt es in der Bibel durchaus auch das Bild des fürsorgenden Vaters und Stammesoberhauptes. Spätestens seit der Neuzeit mit der einhergehenden Trennung von Heim und Arbeit aber tritt in der christlichen Tradition dieses Vatermodell in den Hintergrund. Es wird überlagert durch den Pater familias, der zumindest bis vor kurzem noch wie ein strafender Gottvater über der Familie schwebte, während die Mutter, gemäß des role model der verehrten Maria als Mutter Gottes, für Zärtlichkeit und Verzeihen zuständig war. Pflicht ist eben Pflicht, und seien es die Vaterpflichten im Ehebett.

Klar, solch ein Vatermodell hat auch seine komfortablen Seiten. Aber zeugt es nicht zugleich von einer furchtbaren Verarmung? Natürlich hat sich der Gottesbegriff Israels im Laufe der Jahrhunderte während der Genese der Bibel entwickelt. Generell gilt: Je jünger die Überlieferung, desto mehr verliert das Bild von Gottvater schon im Alten Testament seine männliche Einseitigkeit. Das aber nur sehr zaghaft. Die patriarchalen Vorstellungen von dem einen Vater im Himmel und den vielen Vätern, ja Machos hier auf Erden bleiben klar dominant – und sind sie nicht noch heute weiter prägend? Und zwar nicht nur untergründig? Ist es Zufall, dass gerade eher religiös, genauer: monotheistisch geprägte Kulturen, etwa in Israel, in Exjugoslawien oder in Nordirland, zu einem Machomännerbild neigen?

„Des Vaters Liebe ist der Sohn, und des Sohnes Liebe – ist dessen Sohn“, schreibt der Talmud und zeigt damit eine andere Seite selbstloser Väterlichkeit und Zärtlichkeit auf, die ebenfalls in den monotheistischen Religionen zu entdecken wäre. Von dieser Väterlichkeit der Bibel wäre für uns heutige Väter mehr zu lernen. Nicht nur mütterliche, auch väterliche Zärtlichkeit findet sich darin.

Und das mit Segen und nach dem Vorbild von ganz oben: Der LIEBE Gott ist eben nicht nur der Vater, sondern auch die Mutter, wie Jesaja sagt, wenn er dem/der Höchsten diesen Satz in den Mund legt: „Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch“ (66, 13). Schön auch die Stelle bei Hosea (11, 4), die Gottes Sorge für Israel mit elterlicher, aber wohl eher mütterlicher Liebe umschreibt: „Ich war da für sie wie die (Eltern), die den Säugling an ihre Wangen heben. Ich neigte mich ihm zu und gab ihm zu essen.“ Bezeichnend übrigens die weltweite Überraschung, als der Reformpapst Johannes XXIII. vor rund dreißig Jahren an diese mütterliche Seite Gottes erinnerte.

So wie es nach einigem Suchen also in der jüdisch-christlichen Überlieferung von Anfang an auch die Mutter im Himmel gibt, so ist es möglich, auch das andere, sagen wir, sanftere Vatermodell in der Bibel auszugraben – und zwar ohne den Rückgriff auf traditionell mütterliche Züge vornehmen zu müssen. Nennen wir dieses andere Vaterbild das Josef-Jesus-Modell.

Die Geschichte Josefs, des Verlobten Marias, wie Matthäus es erzählt, hat zunächst etwas durchaus Modernes: Da ist ein Mann, der sich eines Kindes, Jesus, annimmt, von dem er weiß, dass es nicht von ihm stammt. Es ist eine Übernahme von Verantwortung nach einigem Zögern (Matthäus 1, 18–25), was uns Heutigen durchaus sympathisch ist.

Die Heilige Familie mit den Mitgliedern Maria, Josef und Jesus hat etwas von heutigen Patchworkfamilien: Maria wird unehelich schwanger, Josef kümmert sich an Vaters statt um das Kind eines anderen, und Jesus hat schon mit zwölf Jahren Wichtigeres zu tun, als daheim in Nazareth bei Muttern zu bleiben: Eine Jerusalemreise nutzt Jesus zum Ausbüchsen. Als Maria und Josef ihn schließlich nach drei Tagen im Tempel wiederfinden, scheint etwas davon auf, wie sehr Jesus auch Josef ans Herz gewachsen ist: „Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht“, sagt Maria zu ihm. Und nicht untypisch für frühreife Kids zweitausend Jahre später, antwortet Jesus völlig uneinsichtig und den Eltern schon meilenweit überlegen: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ Überdeutlich notiert der Evangelist die Raff-Nix-Reaktion der Eltern: „Doch sie verstanden nicht, was er damit sagen wollte“ (Lukas 2, 41–50).

Jesus von Nazareth scheint überhaupt ein sehr positives und für seine damalige Zeit nicht selbstverständliches Vaterbild gehabt zu haben. Ohne die theologisch hochkomplexe Beziehung zwischen Gottvater und Jesus in der Trinitätslehre zu bemühen (Vater opfert Sohn am Kreuz für die Sünden anderer), ist doch auffällig, wie liebenswert, ja modern die Vaterrolle ist, die Jesus anzubieten hat.

Jesus, der Menschensohn, wie er sich selbst häufig nannte, betont in seinen Gleichnissen immer wieder ein fürsorglich-zärtliches Vatermodell. Bis zu jener Aussage über den treu sorgenden Vater im Himmel: „Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt“ (Matthäus 10, 30). Immer wieder sticht bei Jesu Verhältnis zu seinem Vater im Himmel eine fast liebevolle Direktheit und Unbekümmertheit hervor. Nicht unwahrscheinlich, dass Jesus sein positives Vaterbild, wohl geprägt durch seine Beziehung zu seinem Stiefvater Josef, auf den himmlischen Vater übertrug.

Ein besonders schönes Beispiel, was Jesus als Vorbild für einen sanften, verzeihenden Vater vorgibt, ist das klassische Gleichnis vom „verlorenen Sohn“ (Lukas 15, 11–32): Der jüngere von zwei Söhnen hat sich sein Erbe auszahlen lassen und geht in die Ferne. „Dort führte er ein zügelloses Leben und verschleuderte sein Vermögen“ – unter anderem mit „Dirnen“, wie sein älterer Bruder laut Lukas maliziös bemerkt. „Als er alles durchgebracht hatte“, kehrt er schließlich reumütig nach Hause zurück, völlig verarmt, hungernd und blanker Not folgend.

Und wie reagiert der Vater? „Der Vater sah ihn schon von weitem kommen“, erzählt Jesus dem Evangelisten zufolge, „und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.“ Besser noch, der Vater setzt den Sohn ohne irgendwelche Vorwürfe wieder in seine vollen Rechte ein und feiert zur Freude über dessen Rückkehr ein großes Fest. Wer wünschte sich nicht einen solchen Vater?

Wie fortschrittlich das Vätermodell Jesu war, wird auch an seiner Begegnung mit Kindern (Markus 10, 13–16) deutlich, die zu ihm gebracht werden, damit er ihnen die Hände auflegt. Jesu Jünger versuchen nach den Worten von Markus „schroff“, das zu verhindern: Für sie, selbst Kinder ihrer Zeit, waren Kinder nicht würdig, zu einem solch weisen Meister vorgelassen zu werden. Jesus tadelt die Jünger ob ihrer Missachtung der jungen Menschen. Ja, er lobt die Kinder als Vorbild: „Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes.“ Warum? „Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind“, erklärt Jesus, „wird nicht hineinkommen.“ Das weitere Verhalten sagt noch mehr als seine Worte: „Und er nahm die Kinder in seine Arme; dann legte er ihnen die Hände auf und segnete sie.“ Kein Wunder, dass gerade diese Szene immer wieder zitiert wird, zeugt sie doch von einer Gelassenheit und Zärtlichkeit im Umgang mit Kindern, die in der Bibel ihresgleichen sucht.

Ist dies also das Modell, das uns die Heilige Schrift für unsere Vaterrolle vorgeben könnte? Der „neue Mann“ auf Biblisch? Der sanfte Streiter, ja der Softie im christlichen Gewand?

Nein, so einfach ist es nicht: So wenig wie im Alten Testament nur der strafende, strenge Patriarchengott zu finden wäre, während das Neue Testament nur den verzeihenden, sanften Vater im Himmel kennen würde, so wenig lässt sich heutzutage beim Vaterbild die Alternative Strenge und Härte dort, Sanftheit und Zärtlichkeit hier ausmachen. Man muss nicht so weit gehen, den alten Erziehungsspruch „Mit Druck und Wärme schafft man Diamanten“ als Nonplusultra einer modernen Erziehung und eines neuen Vatermodells zu preisen. Dass aber neben Zärtlichkeit und Sanftheit auch Strenge im Sinne von Entschiedenheit und Klarheit gehört, ist mittlerweile nach dreißig Jahren intensiver Diskussion und Erfahrung mit antiautoritärer Erziehung und neuen Vaterrollen fast Allgemeingut. Ob eine solche Erziehung übrigens in einer klassischen heterosexuellen oder in einer homosexuellen Zweierbeziehung stattfindet, ist dann nicht mehr so erheblich: Entschiedenheit und Zärtlichkeit ist in beiden Fällen ein taugliches Modell für leibliche oder sonstige Väter (und Mütter). Oder wie Friedrich von Schiller sagt: „Nicht Fleisch und Blut, das Herz macht uns zu Vätern.“

Wir sind alle Erben Abrahams, dessen (geistige) Nachkommenschaft tatsächlich, wie der Engel ihm nach der Fast-Opferung seines Sohnes offenbarte, so zahlreich wurde „wie die Sterne am Himmel und wie der Sand am Meeresstrand“ (Genesis 22, 17). Doch wie wahrscheinlich jede Generation müssen auch wir heutigen Väter unsere eigenen Wege bei der Erziehung unserer Kinder finden. Schön wäre es, wenn wir uns dabei ein wenig von Abrahams Entschiedenheit nähmen. Viel mehr jedoch bedürften wir Väter von heute der Selbstlosigkeit Josefs und der Zärtlichkeit Jesu.

Wenn dies gelänge, wäre Christi Himmelfahrt, da Jesus dem Glauben nach aufstieg zu seinem Vater im Himmel, tatsächlich ein „Vatertag“, den man feiern könnte. Und ein paar Biere mit anderen Vätern auf dem Leiterwagen kämen da gerade recht.

PHILIPP GESSLER, 36, ist Redakteur im Berlinressort der taz und seit sieben Monaten Vater