Wenn der Mohn reift

Opiumproduzenten mieten Felder und bringen Erntekolonnen mit Antidrogenkampagne mit falschen Zahlen und faulen Tricks

aus Gardes und Chamkani JAN HELLER

Dass Drogenanbau gottgefällig sei, findet sich nirgends im Koran, nicht in der Sunna – dem traditionellen islamischen Recht – und auch nicht in den überlieferten Sprüchen des Propheten Mohammed, der dritten Rechtsquelle des Islam. Aber wer in Afghanistan kann die Quellen schon im originalen Arabisch lesen? So müssen sich die vielen analphabetischen Afghanen auf die Autorität ihrer Mullahs verlassen. Einige von ihnen nutzen das weidlich aus. In der Provinz Logar, vor den Toren der Hauptstadt Kabul, wurde in einigen Moscheen sogar per Fatwa verkündet: Der Anbau von Opiummohn ist so lange gestattet, wie das daraus gewonnene Rauschgift nicht die frommen Muslime schädigt, sondern „nur“ die Ungläubigen im Westen.

Diese unfrommen Sprüche sind bekannt aus Taliban-Zeiten und wieder politisches Programm. Fundamentalistische Mullahs und um ihr Machtmonopol bangende Exmudschaheddin wollen die um Legitimität kämpfende Regierung in Kabul unterminieren, indem sie die ganze Ohmacht des Interimsstaatschefs Hamid Karsai vorführen. In den Augen des Westens kann man das nicht besser als durch eine neue Opiumrekordernte.

Genau die kündigt sich jetzt an. Mit 4.000 Tonnen rechnen die UN. Russische Behörden gehen von 6.000 Tonnen aus, das indische Narcotics Control Bureau laut Times of India gar von Schwindel erregenden 40.000 Tonnen. Schon im Vorjahr wurde mit 3.500 Tonnen der letzte Taliban-Rekord erreicht, mit einer Milliarde Dollar Gewinn für die afghanischen Drogenbarone und einem europäischen Marktwert von 25 Milliarden Dollar.

An Afghanistans Grenzen sind die ersten Anzeichen für die neue Rauschgiftflut sichtbar. Pakistanischen Rauschgiftfahndern fiel Anfang Mai eine Lieferung von 1.350 Kilo Heroin in die Hände. Tadschikistans Behörden fingen im ersten Vierteljahr 2,8 Tonnen Heroin aus Afghanistan ab.

Der afghanische Finanzminister Aschraf Ghani warnte unterdessen die internationale Gemeinschaft vor der Entstehung eines „Drogenmafia-Staates“ in Afghanistan, wenn jetzt nicht wenigstens die zugesagte Entwicklungshilfe auch wirklich gezahlt werde. Gebraucht wird das Geld unter anderem für Kabuls neue Antidrogenstrategie, deren Entwurf unter anderem auf alternative Lebensmöglichkeiten für Opiumbauern und eine Stärkung der Polizeigewalt setzt. In fünf Jahren, so der Plan, soll die Drogenproduktion so um 70 Prozent verringert, binnen zehn Jahren ganz eliminiert werden.

Hadschi Rahmat, ein Stammesältester aus der Provinz Paktia, ist überzeugt, dass seinen Stammesbrüdern klar ist, dass der Anbau der Rauschgiftpflanze gegen Gesetz wie gegen Glaubensgrunsätze verstößt. Warum in dem Distrikt, der mangels Regierungspräsenz sozusagen basisdemokratisch durch einen Stammesrat verwaltet wird, dann trotzdem überall der Mohn in weißer, violetter und roter Blüte steht? Die Antwort des Hadschi: Die Leute in seinem Dorf seien nach 23 Jahren Krieg bitterarm, Mohn bringe mehr Einkommen als Weizen und sie seien sich der Folgen des Drogenkonsums nicht bewusst. Oft zwängen die wieder aufgetauchten Warlords die Bauern zum Drogenanbau und kassierten dabei saftig ab.

Der Distrikt Chamkani, am Fuße der im Mai immer noch schneebedeckten Weißen Berge, liegt in einem gut bewässerten grünen Tal. Traktoren auf den Feldern zeugen von einem gewissen Wohlstand. Dass Pakistan nahe ist – zwölf Kilometer sind es bis zum Grenzübergang – sieht man nicht nur am Angebot auf dem geschäftigen Basar. Ein Drittel der Bevölkerung, sagt Ahmad Dschan, Sprecher des hiesigen Stammesrates, hält sich noch immer in Pakistan auf – mehr als Arbeitsmigranten denn als Flüchtlinge. In Pakistan befindet sich auch das nächste Krankenhaus, der Ort Chamkani selbst hat nur eine kleine Klinik mit medizinischer Basisversorgung. Bis zur nächsten Provinzhauptstadt sind es fast vier Autostunden über holprige Pisten und steinige Flussbetten, in den nicht mal mehr ein Pfad zu erkennen ist.

Eines von zwei Gebäuden der Schule ist zerstört. Die fünf Klassenzimmer im anderen reichen für die über 3.000 Schüler natürlich nicht aus. Unterrichtet wird im Freien. Wer Glück hat, kauert unter Bäumen, die anderen sitzen in der prallen Sonne oder im stickigen Unicef-Schulzelt. Im Lehrerzimmer sitzt das Kollegium auf dem Boden, denn die wenigen Stühle stehen in den Unterrichtsräumen. Das Gebäude, in dem der Distriktgouverneur residiert, ist ausgeplündert. Gouverneur Seyyed Omar besitzt nicht einmal einen Schreibtisch, Gäste müssen auf einem durchgesessenen Sofa Platz nehmen oder auf einer harten eisernen Bank.

Polizeikommandant Hadiullah hat immerhin seine dunkelblaue Uniform über den Krieg gerettet. Solche wünscht er sich auch für seine 40 Hilfspolizisten, die ihm der Stammesrat stellt: „Damit die Leute sie an den Kontrollstellen von Räubern unterscheiden können.“ Weder Omar noch Hadiullah und seine Polizisten haben seit Monaten ein Gehalt bekommen. Auch hier springt der Stammesrat ein, und Omar, ein wohlhabender Händler, steuert etwas aus seiner eigenen Tasche bei.

Ahmad Dschan vom Stammesrat berichtet von Experten aus den traditionellen Opiumanbaugebieten, die jetzt in der hiesigen Gegend Felder mieten, Mohn anbauen und auch gleich ihre Erntekolonnen mitbringen. Die Paschtunen in Chamkani bauen in diesem Jahr erstmals Opiummohn an und sind nicht erfahren genug im Anritzen der reifen Kapseln. Schneiden sie zu tief, kann das Rohopium nicht an der Kapsel gerinnen, und die Pflanze „verblutet“. Und sie berichten von geheimnisvollen Arabern, die über die nahe Grenze kommen und die Argumente der Drogenfatwas mit gutem Geld unterstreichen.

Aber die neue Opiumflut ist auch Ergebnis kurzsichtiger Entwicklungspolitik. Im Jahr nach dem Sturz der Taliban sorgte die britische Regierung für Kompensationszahlungen an afghanische Bauern, die sich dem Abbrennen oder Unterpflügen ihrer Saat nicht widersetzten. Inzwischen hat sich das geändert: Dieses Jahr sollen Opiummohnfelder ohne Kompensation vernichtet werden. Doch das lassen die Bauern nicht zu. Die Karsai-Regierung ist ohnhin zu schwach, ihre Polizei oder Truppen überallhin zu schicken. Und wenn sie doch kommen, wissen afghanische Drogenbekämpfungsexperten, wie die eigene Kampagne in der Realität aussieht. „Unsere Teams in den Dörfern zerstören einen Jerib (0,2 Hektar) Mohn, melden zwei Hektar und streichen das Geld für die Differenz ein.“ Natürlich will dieser Experte ungenannt bleiben.

Auch beim Endprodukt greifen die Afghanen in die Trickkiste: Das beschlagnahmte Rohopium, das vernichtet werden soll, erweist sich oft als simple Pottasche. Britische Experten fanden in 70 Prozent aller Stichproben nicht den geringsten Morphingehalt. Und so fragen sich Hadschi Rahmat und Gouverneur Omar: Warum sollen ausgerechnet wir die Antidrogenkampagne bei uns zulassen, wenn so viele andere ungeschoren davonkommen?