Die Ästhetik dritter Ordnung

Theorie und Technik: Mit Gábor Paál und Monica Bellucci auf der Suche nach ultimativer Schönheit und Erkenntnis

Die Höhepunkte ästhetischen Erlebens werden durch kreative Handlungen ausgelöst

Die Frage ist haarig, weil sie ans Eingemachte geht: Was ist schön? Nicht umsonst sind darüber schon millionenfach Freundschaften zerbrochen, dickleibige Kopfgeburten verfasst und immer wieder neue Lösungsvorschläge in den Künsten entwickelt worden. Vielleicht müsste man sich ihr deshalb auf einem Umweg nähern.

Also, zweifellos unschön ist es, sich in eine „Matrix“-Double-Feature-Night zu begeben und das Neue, penetrant Angepriesene am zweiten Teil zu vorgerückter Stunde schlicht zu verschlafen. Von „Reloaded“ blieben deshalb in meiner Erinnerung nur Bruchstücke übrig, diffuse Elementarteilchen, die sich beim besten Willen nicht mehr zu einer kohärenten Story zusammenführen ließen. So konnte ich weder die perfekte Tricktechnik noch die 46 von Bild akribisch nachgewiesenen Logik- und Anschlussfehler, Monica Belluccis betörendes Dekolletee oder Yuen Wo-Pings atemberaubende Martial-Arts-Choreografien angemessen würdigen.

Womit ich mich im traurigen Grund meiner Seele wärmte, war einzig die glänzend geschriebene Rezension von Katja Nicodemus in der Zeit sowie der gar nicht einmal schwache Trost, dass ein Nickerchen in diesen bequemen Multiplexsesseln zu einer der angenehmeren Erfahrungen zählt, die man zumeist unter dem psychologischen Tigerentenpflaster „Glück im Unglück“ verbucht.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Es war irgendwie doch ganz schön, so weltabgewandt inmitten von dröhnendem Digitalrambazamba.

Für Gábor Paál, Wissenschaftsjournalist an den Schnittstellen der „dritten Kultur“, wäre dieser Erfahrungsbericht nur ein weiteres Indiz dafür, dass das von Maybrit Illner immer so schelmisch empfohlene „Vermehren der gewonnenen Einsichten“ auf eine andere Ästhetik verweist als die vegetativen Wirkungen bestimmter Sinnesreize. Die „Erkenntnisästhetik“, wie Paál sie betreibt, geht der Frage nach, wie es dazu kommt, dass aufgrund bestimmter Eigenschaften einem Objekt oder einer Erfahrung das Attribut „schön“ zugeschrieben wird, das heißt, man attestiert eine ästhetische Qualität.

Unter Zuhilfenahme verschiedener Ansätze – von der Philosophie Gregory Batesons bis zur Hirnforschung – entwirft Paál in seinem sehr kundenfreundlichen Buch ein kategoriales System, um das „Meta-Gefühl“ des Schönheitsempfindens auseinander zu falten. So wäre etwa die Ebenmäßigkeit von Belluccis Gesicht oder der Stil einer Filmkritik eher den „O-Werten“ zuzuordnen, weil diese formale Eigenschaften wie Ordnung oder Stimmigkeit bezeichnen. „S-wertige“ Beziehungen ergeben sich eher daraus, dass man mit einer Situation zunächst fremdelt, sich dann aber doch gerne darauf einlässt. Etwa dergestalt, dass die ganzen biblisch-mythologischen Ballaststoffe in „Matrix“ plötzlich nach dem eigenen potterschen Aha-Erlebnis schmecken: Nein, das können nicht meine Eltern sein! Oder dass man sich nicht mehr daran stört, dass selbst die avanciertesten Erwähltheitsepen sehr archaische Gegenstände (z. B. einen Schlüssel) benötigen, um Lücken im Plot notdürftig zu schließen.

Der Höhepunkt ästhetischen Erlebens stellt sich indes über „K-Werte“ ein, d. h. kreative Handlungen. Darunter zählt Paál insbesondere solche, die von einem „Flow“ begleitet sind, wo also die Aufmerksamkeit sich auf ein beschränktes Stimulusfeld konzentriert und die Kontrolle niemals entgleitet. Heißt das mit anderen Worten, etwas „wie im Schlaf“ zu tun, ist die Ästhetik dritter Ordnung? Der behende Keanu Reeves und der selig schlummernde Schreiberling wären unwissentlich eins geworden, verschmolzen zu einer neuen Matrix? Wäre doch zu schön.

JAN ENGELMANN

Gábor Paál: „Was ist schön? Ästhetik und Erkenntnis“. Königshausen & Neumann, Würzburg 2003, 233 S., 19,80 €