Wen der Schuh drückt

Ach, wie wenig Cinephilie auf dem bedeutendsten Filmereignis der Welt! Die Autorenfilmer hatten es in Cannes mit imperialen Hollywoodjournalisten zu tun – und mit einer glücklosen Festivalleitung

von CRISTINA NORD

Harmlos fing es an. Am zweiten Tag des Festivals wurde zur Pressekonferenz von „Matrix Reloaded“ geladen. Ein US-amerikanischer Journalist erkundigte sich, ob die Schauspieler auf dem Podium angesichts der Spannungen zwischen der französischen und der amerikanischen Regierung je erwogen hätten, von ihrer Reise an die Côte d’Azur abzusehen. Nein, antwortete Keanu Reeves. „Ein Filmfestival sollte ein Ort sein, an dem man zusammenkommt, um der Kunst und der Menschheit zu huldigen.“

Reeves hat Recht. Wenn Ressentiments schon die politische Bühne beherrschen, so haben sie auf der eines Filmfestivals nichts zu suchen. Doch je weiter das Festival voranschritt, umso mehr Feinde machte sich diese Einsicht. Kaum waren die ersten Tage verstrichen, kursierte in US-amerikanischen Branchenblättern der Vorwurf, Cannes kapriziere sich zu sehr auf den Autorenfilm. Gezeigt würden fast ausnahmslos französische Produktionen respektive Koproduktionen. Todd McCarthy monierte in Variety: Wie ein Film aufgenommen werde, stehe fest, lange bevor er gezeigt werde. So erhielten Filme Lob, die, würden sie nicht vom Namen eines Auteurs flankiert, vor niemandes kritischem Blick Bestand hätten. Derselbe Journalist klagte, dass Lars von Triers Wettbewerbsbeitrag „Dogville“ nicht nur eine formale Katastrophe, sondern überdies von Antiamerikanismus durchdrungen sei.

Natürlich blieb das in Cannes nicht unbemerkt. Lars von Trier war sich nicht zu schade, den Vorwurf des Antiamerikanismus zu nähren. „Ich würde gerne eine ‚Free America‘-Kampagne starten – so wie Amerika mit dem Krieg ‚Free Irak‘ propagiert hat“, sagte er bei der Pressekonferenz zu „Dogville“. Die Festivalleitung ihrerseits ließ verlauten, dass Frankreich sich, anders als die USA, als Koproduzent in vielen Ländern der Welt engagiere und Cannes ein Schaufenster dieses Engagements sei. Außerdem würden US-amerikanische Produktionen regelmäßig im Wettbewerb und außer Konkurrenz gezeigt. Die von ihrer imperialen Stellung verwöhnten Hollywoodbosse seien offensichtlich gekränkt, weil das bedeutendste Filmfestival der Welt in Frankreich stattfindet.

Das klingt ein wenig wie die Legende von dem kleinen gallischen Dorf, das dem römischen Cäsarenreich trotzt. Begleitet wird es von Wunderlichkeiten wie der, dass sich die Regionalzeitung Nice Matin ernsthaft fragte, warum der französiche Film „Les côtelettes“ lauter ausgebuht wurde als „The Tulse Luper Suitcases: The Moab Story“ von Peter Greenaway. War bei den Buhrufern etwa antifranzöisches Ressentiment im Spiel?

Vielleicht wäre es nicht so weit gekommen mit den leisen und lauten Animositäten, hätte die Festivalleitung, namentlich Thierry Frémaux und Gilles Jacob, eine glücklichere Hand bei der Auswahl der diesjährigen Wettbewerbsfilme bewiesen. Denn die wollte in der Tat nicht überzeugen. Zu viele Filme waren mittelmäßig, zu viele nicht einmal das: Hector Babencos Gefängnisdrama „Carandiru“ versammelte alle Untugenden des lateinamerikanischen Overactings. Bertrand Bonello kam bei „Teresia“ über Prätentiöses nicht hinaus. Lou Yes „Purple Butterfly“ war ein Historienschinken, der wirre Dramaturgie mit einem Übermaß suggestiver Bilder verband. Da sich diese Liste fortsetzen ließe, liegen Zweifel an den Auswahlkriterien nahe. Wurden keine besseren Filme eingereicht? Oder haben sich Thierry Frémaux und Gilles Jacob in einem hermetischen Geschmackskokon eingekapselt?

Die Unzufriedenheit über das Programm bot einen idealen Hintergrund für die politischen Spiegelfechtereien. Ironischerweise fiel dabei ausgerechnet Vincent Gallo eine exponierte Rolle zu. Der US-amerikanische Regisseur ist zwar weit davon entfernt, sich antiamerikanischer Umtriebe verdächtig zu machen. Im Gegenteil: Er gehört zu den Filmschaffenden, die Bushs Politik begrüßen. Dennoch hat er, indem er mit „The Brown Bunny“ einen handlungsarmen, stellenweise narzisstischen Autorenfilm drehte, die Presse verärgert.

Das Branchenblatt Screen International beeilte sich zu vermelden, Gallo habe sich reumütig gezeigt. „Ich kann mich nur entschuldigen bei den Leuten, die glauben, ihre Zeit verschwendet zu haben“, soll der Regisseur gesagt haben. „Es ist ein Desaster von einem Film.“ Gallo dementierte. Doch aus der Rolle desjenigen, der für die allgemeine Unzufriedenheit den Kopf hinhalten musste, kam er nicht mehr heraus. Bei allem, was sich gegen „The Brown Bunny“ einwenden lässt: Mindestens eine seiner Einstellungen – die, in der Gallo auf seinem Motorrad ins weiße Nichts der Salzwüste hinein- und wieder herausfährt – wird noch lange in Erinnerung bleiben. Und die Feindseligkeit, die Gallo in Cannes allenthalben entgegenschlug, hatte etwas Erschreckendes. Wenn Leute, die beruflich mit Film zu tun haben, egal ob als Kritiker, Verleiher oder Produzent, so wenig Geduld und so wenig Cinephilie mitbringen, spricht das nicht für die Branche.

Wenn Cannes in diesem Jahr kein Ort war, an dem mit Verve und Freude ästhetische Positionen debattiert wurden, so gibt dies doppelten Anlass zur Sorge: zum einen, weil man den Eindruck nicht loswird, die Kluft zwischen den USA und dem alten Europa sei tatsächlich schon so groß, dass sie sich bald nicht mehr überbrücken lässt; zum anderen, weil die Anspannungen zu ersticken drohen, was zu einem Festival gehört: Neugier, Unvoreingenommenheit und die Lust an den vielen Ausdrucksformen des Filmes. Umso erfreulicher ist es, wenn die Entscheidung der von Patrice Chéreau präsidierten Jury von salomonischer Weisheit geprägt ist. Die Goldene Palme und der Preis für die beste Regie gingen an Gus Van Sants „Elephant“, mithin an einen Film, der die Lager versöhnt, insofern er von einem Auteur und aus den USA stammt.

„Elephant“ sucht nach einer fiktiven Version des Massakers an der Columbine High School in Littleton, Colorado. Ein schwieriges Sujet, dem Gus Van Sant nicht mit eilfertigen Erklärungen, sondern mit großem Formbewusstsein begegnet. Wie die Kamera mit den Räumen der Schule und den Körpern der von Laiendarstellern gespielten Schüler umgeht, ist bemerkenswert – ebenso wie die schlaufenförmige Bewegung, auf deren Spur Van Sant die erzählte Zeit setzt. Problematischer indes erscheint die Art, wie sich „Elephant“ den Figuren der Täter nähert. Da man nicht viel von ihnen erfährt, zählt das Wenige doppelt. Und damit drängen sich genau die Begründungen auf, die Gus Van Sant vermeiden wollte.

Bedauerlich ist, dass Lars von Triers „Dogville“ keinen der Preise erhielt. Denn der dreistündige, in Theaterkulissen gedrehte Film bildete einen Höhepunkt des Wettbewerbs. Ein Minimum an Schauplatz und Requisite reicht, um von Grace, der mysteriösen Fremden (Nicole Kidman), und ihrem Leiden in einem Bergdorf der Rocky Mountains zu erzählen. In seinem Antirealismus gelingt Lars von Trier etwas, was man sich in Cannes von mehr Regisseuren gewünscht hätte: Er erschließt dem Kino einen neuen Raum.

Man sollte daher auf die Äußerungen des dänischen Regisseurs nicht viel geben, genauso wenig wie auf die Vorwürfe seitens der US-amerikanischen Journalisten. Wer „Dogville“ auf eine politisches Aussage reduziert, muss mit dem Film, mit dem das Festival am Sonntagabend schloss, genauso verfahren. Der nämlich beginnt mit einer ausgesprochen suggestiven Montage. Nachdem der Vorspann verstrichen ist, sieht man die Aufnahme einer Schafherde. Die Leiber der Tiere sind aus einer angeschrägten Aufsicht heraus fotografiert. Von rechts oben drängen sie ins Bild, unten links drängen sie wieder heraus. Nach dem Schnitt sieht man – die Position der Kamera hat sich nicht geändert – Menschen, die dicht gedrängt aus einem U-Bahn-Schacht strömen, offensichtlich Arbeiter und Angestellte auf dem Weg zur Arbeit. Die der Montage innewohnende Gleichsetzung von Mensch und Schaf müsste jemandem wie McCarthy reichen, um den Film als antikapitalistisches und daher unamerikanisches Machwerk zu geißeln.

Und es geht weiter: Etwas später sieht man die Hauptfigur im Innern einer Fabrik. Der Mann steht am Fließband und zieht Schrauben an. Monotonie der Bewegung: Selbst wenn das Band stillsteht, drehen sich seine Arme im Rhythmus der Schraubenschlüssel. Noch später wird dieser Mann zur Nahrungsaufnahme einer neu entwickelten Lunch-Maschine überantwortet. Denn wer während des Essens arbeiten kann, so will es die Körperpolitik des Fordismus, spart Zeit und steigert die Leistung. Also wird dem Helden die Suppe automatisch in den Mund gelöffelt. Doch der Film glaubt nicht an den Fortschritt: Die Maschine geht kaputt, der Held verliert seine Stelle, und was immer er fortan unternimmt in Sachen pursuit of happiness, es schlägt fehl. Der amerikanische Traum schließt ihn nicht ein, denn erstens stellt er sich ungeschickt an beim Tellerwaschen an, und zweitens werden keine Tellerwäscher mehr gebraucht.

Wer Filme so schaut wie Todd McCarthy, dem muss das als Gipfelpunkt eines antifordistischen, antikapitalistischen und damit antiamerikanischen Defätismus erscheinen. Alle anderen biegen sich vor Lachen in den Sitzen. Denn Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ zählt zum Vergnüglichsten und Schönsten, was die Filmgeschichte hervorgebracht hat. Und es ist frappierend, wie gut „Moderne Zeiten“, obwohl vor 70 Jahren gedreht, in unsere Gegenwart passt.