Von wilden und von braven Mäusen

Unbändiges Triebleben und schwerfällige Grazie: Ein Streifzug durch die Sonderausstellung „Oscars in Animation“ im Filmmuseum zeigt, dass nicht immer die neuesten und die teuersten Zeichentrickproduktionen die besten sein müssen

von PATRICK BATARILO

Es ist erstaunlich: Die erste Mickymaus, die 1928, also ganz zu Beginn der Ära der Animation, auf Kater Karlos „Steamboat Willie“ anheuert, ist nicht die langweilige, besserwisserische Mustermaus der späteren Jahre. Diese frühe Maus ist unbändig, gewalttätig und manchmal sogar frivol, ein Anarchist des Trieblebens. Ganz anders der dreidimensionale Protagonist aus „Chubb Chubbs“, der im Jahre 2002, also zu Beginn der Ära der digitalen 3D-Animaton, darauf drängt, dass man ihn auf die Bühne einer intergalaktischen Music Hall lässt. Sein zappeliges Auftreten ist nur noch der großäugige Ausdruck eines harmlosen Seifenblasentriebs. Immer noch dasselbe Erzählschema – ein unterdrückter kleiner Kerl setzt sich gegen die repressive Norm durch –, aber keine Spur von Tollheit. So ist der erste Eindruck beim Gang durch die Sonderausstellung zur Geschichte der Animation im Berliner Filmmuseum merkwürdig: Der frühe Disney steht als Vertreter radikaler Kost da. Und die gepriesenen digitalen Neuanfänge erweisen sich als fade Verniedlichung.

„Oscars in Animation“, die Ausstellung, die solche Vergleiche zwischen zwei- und dreidimensionaler Animation ermöglicht, ist der illustren Academy of Motion Picture Arts and Sciences zu verdanken, die alljährlich die Oscars verleiht. Dementsprechend sind allerdings auch nur Filme vertreten, die zumindest für einen Oscar nominiert waren. Man geht durch die Ausstellung, betrachtet die vielen interessanten Filmausschnitte und oft etwas beliebig ausgewählten, mitunter recht drögen Produktionsskizzen und Arbeitsentwürfe und freut und ärgert sich abwechselnd. Man freut sich an der Sorgfalt, mit der die Ausstellungsmacher die Besucher mit den technischen Abläufen der Animation vertraut machen. Und man ärgert sich, weil die anarchische Energie bei Disney angesichts von Verwertungszwängen und der Einführung der Fließbandarbeit am Zeichentisch so schnell verpuffte. Schon in „Fantasia“ von 1949 stiftet Micky zwar als Zauberlehrling noch gelegentlich Unruhe, aber im Grunde ist er längst erwachsen. Spätestens mit „Schneewittchen“ verkündet Disney dann nur noch die Apologie der Nettigkeit. Daran ändert sich auch in den 3D-Animationen der jüngsten Zeit nichts. Man ärgert sich auch diesmal über die Ausstellungsmacher, wenn man feststellt, wie sehr der amerikanische Mainstream in der Ausstellung überwiegt. Viel Schönes von Osteuropa bis Asien bleibt da auf der Strecke, weil es nie für einen Oscar nominiert wurde. Trösten kann man sich aber mit dem Gedanken, dass ja manches, was hier fehlt, im Rahmen der hervorragend konzipierten Filmreihe zu sehen ist, die das Arsenal parallel zur Ausstellung zeigt – dort sind dann auch experimentelle Filme zu sehen, unter anderem aus dem im Animationsbereich recht regen Berlin.

Apropos deutsche Produktionen: Die Ausstellung ist vom Filmmuseum um Exponate zu zwei deutschen Stop-Motion-Filmen erweitert worden, „Balance“ von 1989 und „Quest“ von 1996, beide ebenfalls Oscar-Gewinner. Die zwei Kurzfilme sind in liebevoller Kleinarbeit hergestellt, sie sind sinnlich, poetisch und haben etwas zu erzählen. Da stellt sich schon die Frage, ob nicht die eigentlich interessante Alternative zum Zeichentrickfilm die Modellanimation ist, ob sie nun mit Stein-, Ton- oder Knetfiguren arbeitet. Während man bei den digitalen 3D-Spielereien oft das Gefühl hat, dass bei dem ganzen Aufwand außer ein bisschen mehr Raumgefühl kein wirklicher Mehrwert produziert wird, zeigen „Quest“ oder „Balance“, dass die Modellanimation einen ganz eigenen Ausdrucksraum bietet, der eher vom Puppenspiel und der Bildenden Kunst her zu verstehen ist. Nicht die Geschwindigkeit des anarchisch freigesetzten Trieblebens ist hier zu Hause, sondern eine eigentümlich schwerfällige Grazie, die aus dem Gegensatz zwischen den Absichten der Figuren und ihrer immer präsenten unbeholfenen Materialität entsteht.

Am Ende verlässt man die Ausstellung mit einem Kopf voller zappelnder Geschöpfe und dem Eindruck, dass es wieder einmal die Frühphasen und, wie im Falle von „Quest“ und „Balance“, die von kleinen Gruppen und Neulingen eingeschlagenen Seitenwege sind, die die Geschichte eines Genres so interessant machen. Die Bedeutung der 3D-Animationstechniken spielt sich dagegen wohl eher in anderen Bereichen ab, im Spielfilm, Videospiel und in der Anwendung in der Medizin oder Biochemie. Und warum war nun der Anfang des Zeichentrickfilms so viel aufregender als der Anfang des 3D-Animationsfilms? Vielleicht liegt es daran, dass zwar in den Anfangsphasen der Entwicklung einer Technik die Mechanismen der Selbst- und Fremdzensur noch nicht etabliert sind, diese schönen Anfangsmöglichkeiten sich im Zeitalter der digitalen Animation aber nicht einstellen wollen. Das ganze Computer-Hightech muss sich eben geich von Beginn an bezahlt machen.

Die Ausstellung findet noch bis zum 10. August im Filmmuseum Berlin am Potsdamer Platz statt