Das große fremde Reptil

Gleichsam der Heilige Gral des Kinos: Mit „In the Mirror of Maya Deren“ hat die österreichische Dokumentarfilmerin Martina Kudlacék die verbliebenen Spuren der 1961 gestorbenen Filmautorin zusammengetragen. Sie führen ins Anthology Film Archive von Jonas Mekas und in die Charts des Kunstkinos

von MADELEINE BERNSTORFF

Als ich eine Kamera in die Hände bekam, war es, als würde ich heimkommen. Als würde ich tun, was ich schon immer tun wollte, ohne es in Worte übertragen zu müssen. Maya Deren

Aufnahmen von Maya Derens heller, aufgeregter, manchmal fast trompetender Stimme haben sich in ihrem Nachlass erhalten. Sie sind auch in dem gelungenen Filmporträt „In the Mirror of Maya Deren“ von Martina Kudlacék zu hören, dem es gelingt, über die Gespräche mit den Weggefährten und MitarbeiterInnen von Maya Deren, mit sorgsam ausgewählten Filmausschnitten und einem präzise montierten Soundtrack von John Zorn, diese Überfigur des (feministischen) Filmkanons plastisch werden zu lassen – ohne Legenden und Mystifizierungen zu sehr aufzuplustern. Der Filmaktivist und Mitbegründer des Anthology-Filmarchivs Jonas Mekas kommt mit Schlapphut und seinem berühmten Lächeln zwischen Archiv-Regalreihen auf die Kamera zu und zeigt vier bunte Lebensmittelbüchsen, handtellergroß, beklebt mit rotem Lassoband, beschriftet mit schwarzem Filzstift: „Dies ist gleichsam der Heilige Gral des Kinos. Hier bewahrte Maya ihre Filme auf. Dies ist eines der Archive, wo man immer noch Entdeckungen machen kann und darüber in Aufregung und Ekstase gerät.“

Die österreichische Filmemacherin Martina Kudlacék nimmt die kleinen Röllchen mit 16mm-Film in die Hand. Als Achtzehnjährige war sie auf ein dünnes Bändchen des Merve-Verlags mit Texten von Maya Deren gestoßen, trug es seitdem mit sich herum und nahm Maya Derens Ermutigungen auf der Suche nach einer persönlichen Filmsprache ernst. Während des Studiums an der Prager Filmschule Famu traf sie auf den Filmemacher Alexander „Sasha“ Hammid, den zweiten Ehemann Maya Derens. Und zufällig besuchte sie genau dann das New Yorker Anthology Film Archive, als Jonas Mekas gerade das Plakat abhängen wollte, auf dem vergeblich nach einer enthusiastischen Person gesucht wurde, die Maya Derens Nachlass unbezahlt bearbeiten wollte.

Maya Deren kam im Jahr 1917 in Kiew als Eleonora Derenkowski auf die Welt. Die Familie floh, als es im Jahr 1922 zu Pogromen gegen ukrainische Juden kommt, in die USA. Es heißt, der Vater Solomon, ein bekannter Psychiater, sei Trotzkist gewesen. Mit der Einwanderung amerikanisiert die Familie den Namen. Eine Fotografie zeigt die Kleine mit Samtbarett, unter dem die Locken hervorquellen, ein melancholisch entrücktes Kindergesicht. Eleonora wächst behütet auf, in engem, aber widerspenstigem Kontakt zum Vater, die Welt der psychoanalytischen Begriffe gehört zu ihrem Alltag. Sie besucht einige Jahre die internationale Schule in Genf und engagiert sich während ihres Studiums in einer trotzkistischen Jugendorganisation. Mit ihrem späteren ersten Ehemann, dem Gewerkschaftler Gregory Bardacke, organisierte sie einen Studentenstreik für die Antikriegsbewegung. Nach ihrem Studium begegnete sie der anthropologisch interessierten Choreografin Catherine Dunham, die mit einem karibischen Tanzensemble auftrat und in ihren Tanz Elemente aus dem haitianischen Voodoo integriert hatte. Während einer Tournee an der amerikanischen Westküste lernt sie Alexander Hammid kennen, der den Namen Maya für sie gefunden hat.

„Meshes of the Afternoon“ haben die beiden 1944 zusammen gedreht: Verstrickungen des Nachmittags. Ein Film, der plötzlich radikale, weibliche Subjektivität formulierte, der wie kein zweiter Avantgardefilm in die Filmgeschichte eingegangen ist, zur Ikone geworden ist und für viele FilmemacherInnen immer noch als Katalysator zum experimentellen Arbeiten wirkt. Eine Frau in weiten dunklen Hosen setzt sich in einen Stuhl, eine große Mohnblume auf dem Schoß – die Kamera gleitet über den Körper, streicht kurz von den Beinen hoch zur Brust, nebenbei, das Gesicht ist nicht zu sehen. Groß dann das Auge, das im Traum versinkt. Ein Weg, geschwungen mit Palmen, durch eine Röhre aufgenommen. Eine Gestalt düster verschleiert, ein undefinierbares davonhuschendes Rätsel, dreht sich und trägt unter dem Schleier kein Gesicht, sondern einen Spiegel.

Mayas Schatten an der Wand: Mit den bewussten Bewegungen und der aufrechten Haltung einer Tänzerin läuft sie der wehend verhüllten Gestalt nach, die die überdimensionale Mohnblume hastig davonträgt. Maya Deren trägt ihr Gesicht wie ihren Körper und umgekehrt. Deren mietet ein Kino und zeigt den Film, es kommen überraschenderweise über zweihundert Interessierte. Schon bald dreht sie ihren nächsten Film, „At Land“, mit Hilfe der Standfotografin Hella Heyman und ihres Ehemanns Sasha Hammid. Eine Frau wird angeschwemmt, die Wellen bewegen sich rückwärts, sie zieht sich an einer riesigen Treibholzwurzel hinauf und befindet sich plötzlich am Rand einer weiß gedeckten Tafel, an der eine große Abendgesellschaft ihre sozialen Rituale feiert. Sie kriecht wie ein fremdes Reptil über den Tisch.

Da Maya Deren nicht in der Lage war, kontinuierliche finanzielle Unterstützung für ihre Filme sicherzustellen, tourte sie als Vortragende durch die (universitären) Filmclubs, arbeitete als Publizistin und Organisatorin an einem gewogeneren Klima für unabhängiges Filmemachen. In der Dekade nach dem Zweiten Weltkrieg forderte Deren mehr von Künstlern selbst kontrollierte Organisationen. Sie wünschte, dass zeitgenössische KünstlerInnen mehr wären als Spezialisten der Produktion, dass sie auch soziale und ökonomische Verantwortung für die Rezeption übernähmen. Vor ihren Filmvorführungen verteilte sie Handzettel und Gebrauchsanweisungen und bestand darauf, zuerst über die Filme zu sprechen und sie dann zu zeigen. Sie versuchte das Vorurteil auszuräumen, ihre Filme hätten etwas mit dem damals dominanten Surrealismus zu tun, und wehrte sich dagegen, sie mit Irrationalismus in Verbindung zu bringen: „Unter keinen Umständen sollen diese Filme als surrealistisch oder als freudianisch angekündigt werden“ (sie schreibt absichtlich „Freaudian“ wie „fraud“, Betrug), „mein Schwerpunkt ist die bewusste Kontrolle der Form, ganz im Gegensatz zur surrealistischen Ästhetik der Spontaneität.“

1946 erhielt Maya Deren das erste Guggenheim-Stipendium überhaupt, das zur Arbeit an einem Film vergeben wurde. Maya Deren hatte den Film von Margaret Mead und Gregory Bateson über Trancen in Bali gesehen und war – obwohl die beiden einen völlig anderen Ansatz verfolgten – sehr inspiriert. Sie reiste nach Haiti. Im Gepäck die Filmkamera, viele Rollen Filmmaterial und ein neu entwickeltes Instrument für die Tonaufnahmen, einen Drahtrekorder, der zwar schwer zu tragen, aber bezahlbar war. Deren begeistert sich für Besessenheit eher als universelles, transkulturelles Phänomen, urspünglich wollte sie Trance-Aufnahmen aus Bali mit den Bildern aus Haiti zusammenschneiden. Sie geriet an die Grenzen des Darstellbaren, dreimal fuhr sie nach Haiti, wurde selbst initiiert und kämpfte zehn Jahre erfolglos damit, das gedrehte Material zu montieren.

Ihr Buch „Divine Horsemen“ über die haitianischen Erfahrungen liest sich weniger wie ein ethnographischer Bericht, eher wie ein religiöses Traktat. 1977 erschien ein Film mit dem gleichnamigen Titel, geschnitten von ihrem letzten Ehemann Cheryl Ito: ein Versuch, Derens gedrehtes Material, die aufgenommenen Töne und die geschriebene Studie zusammenzubringen. Eine erklärende, autoritäre männliche Stimme und eine klischeeartige weibliche Stimme sprechen abwechselnd an den Bildern vorbei, die Töne funktionieren nur noch als Soundteppich. Im Anthology Film Archive liegen fast vier Stunden des ungeschnittenen Materials: lange Einstellungen, dauernde Bewegung, Handkamera, Reißschwenks, Zeitlupen. Auch wenn das ungeschnittene Material dynamischer und beteiligter wirkt, so wird doch deutlich, dass Deren nur Spuren des Okkulten aufnehmen konnte, vielleicht genau deshalb, weil ihr das Interesse am Sozialen und an den Subjekten der Trance fehlte.

Maya Deren starb 1961 im Alter von 44 Jahren in New York. Mit zu ihrem frühen Tod beigetragen haben sicher die vielen „Feelgood-Cocktails“ aus Vitaminen und Amphetaminen, die sie sich seit ihrer Zeit als Tänzerin regelmäßig spritzte. In den späten 60ern entstand in New York das, was Maya Deren gefordert hatte – eine umfangreiche Infrastruktur für den nichtkommerziellen Film. Dabei verloren die Frauen, die mitgeholfen hatten, diese Strukturen aufzubauen. So fanden erst einmal weder die Filme der Beat-Dokumentaristin Shirley Clarke noch die der kanadischen Multi-Stilistin Joyce Wieland Eingang in die kanonisierende Sammlung des Anthology Film Archives. Maya Derens „Meshes of the Afternoon“ aber ist zum meistgezeigten Avantgardefilm überhaupt geworden.

„In the Mirror of Maya Deren“. Regie: Martina Kudlacék, Österreich/ Schweiz/Deutschland, 103 Minuten