Die rote Wüste

Ein Hoch der Unergründlichkeit: In Phillip Noyce’ Spielfilm „Long Walk Home“ geht es um Kindsraub in Australien

Man kennt ihn als Mann fürs Grobe, als verlässlichen Vertragsarbeiter. Phillip Noyce hat sich in den letzten zehn Jahren vor allem Hollywood in den Dienst gestellt. Mit mystisch aufgetakelten Thrillern wie „Der Knochenjäger“ (1999) oder Geheimdienstverklärungen wie „Die Stunde der Patrioten“ (1992) und „Das Kartell“(1994). Mit Produktionen, die sich mit einem beachtlichen Arsenal an High-Tech-Waffen mehr für die Kunst der Zerstörung als für komplizierte Systemzweifel interessieren, sorgte er für einträgliches Mittelmaß.

Jetzt aber hat den australischen Regisseur der Ehrgeiz gepackt. Nach dem Vietnam-Melodram „Der stille Amerikaner“, in dem Michael Caine als vom Zynismus angefressener Times-Reporter doch noch einmal für Ehre und Anstand Haltung annimnt, liefert Noyce mit „Long Walk Home“ ein zweites engagiertes Projekt. Diesmal eines in australischer Heimatkunde. „Long Walk Home“ erzählt auf der Basis eines Roman gewordenen Berichts die authentische Geschichte von drei Mischlingskindern, die von ihren Familien getrennt und in ein Umerziehungsheim verschleppt werden. Dort sollen sie nach den Direktiven der Rassenpolitik „entwildert“ und als Hauspersonal für die Kolonialherren nutzbar gemacht werden. Doch Molly (Everlyn Sampi), Daisy (Tianna Sansbury) und Gracie (Laura Monaghan) reißen aus und fliehen 1.500 Meilen durch die rote Wüste nach Hause. Als Orientierung dient ihnen der längste Kaninchenzaun der Welt, der den Kontinent von Nord nach Süd teilt.

Drei kleine, barfüßige Mädchen mit ernsten Mienen, zerlumpten Kleidern und einem unbeugsamen Trotzdem im Sinn, das ist ein Anblick, der in „Long Walk Home“ entgegen der rauen Oberfläche des Dokumentarischen sofort die Weichen zum Gefühlskino stellt. Eine anrührende Geschichte über die „stolen generation“, das war zu erwarten, schlimmstenfalls ein folkloristischer Ausflug zu den entfernten Schauplätzen fremden Elends.

Doch Noyce diszipliniert sich anfangs zu Schlichtheit und Distanz. Er vermeidet allzu große Nähe und zieht über weite Strecken das Kontextuelle den Misereor-Tütchen-Bildern vor. Ein Zusammenhang, der sich hier vage aus Himmel und Erde fügt, aus Mythos und Fremdheit, Ritual und Notwendigkeit – an keiner Stelle behauptet der Film, bis ins Kleinste zu begreifen, was er sieht. Eine Vorsicht, die in den besten Passagen für unprätentiöse Tableaus sorgt. Wenn Totalen die Flüchtigen der Wüste übergeben, weil die drei sich immer noch am besten ohne fremde Protektion durchschlagen. Oder wenn der Spurensucher Moodo, ein Aborigine (David Gulpilil), der längst zum Personal der Kolonialmacht gehört, angesichts ihres Überlebenswillen und ihrer Raffinesse stumm seinen Respekt für das eigene Volk wieder entdeckt.

In solchen Passagen wird „Long Walk Home“ zu einem eigenwilligen Roadmovie, in dem sich das Dilemma einer Kultur in jeder Spur, jedem verräterisch abgeknickten Halm zwischen Präsenz und Verschwinden spiegelt. Und in dem die Rückwärtsbewegung der Mädchen von einer Utopie des längst Vergangenen erzählt. Naiv sind dabei nicht die Heldinnen, naiv sind lediglich ihre Pädagogen. „Zu eigensinnig“, „zu unergründlich“, klagt Kenneth Branagh einmal in der Rolle des Chief Protector of Aborigines über die Unerziehbarkeit der Mädchen. Genau vor diesem „Unergründlichen“ knickt Noyce mit seinem Film in diffuser Ehrfurcht ein und legt sein eigenes Dilemma offen: Er staunt viel zu gerne, als nur das Geschehene nachzuzeichnen.

Der Wille zum Dokumentarischen zerreibt sich, denn Noyce’ eigentliche Lust gilt der epischen Ausschmückung, und seine Begeisterung für den eigenen humanistischen Auftrag ist unübersehbar. „Long Walk Home“ mag keinen Schimmer von Kaninchenjagd und dem großen, schwarzen Vogel haben, der als Patron von Mollys Seele seine Kreise zieht. Umso besser kennt sich der Film mit Gut und Böse aus. Und wer das Erdgeschehen so sortiert hat, braucht sich um den Himmel fremder Eschatologien nicht wirklich zu scheren.

BIRGIT GLOMBITZA

„Long Walk Home“. Regie: Phillip Noyce. Mit Everlyn Sampi, Tianna Sansbury, Kenneth Branagh, Ningali Lawford, David Gulpilil u. a. Australien 2002, 94 Minuten