Sex auf der Müllhalde

Verwesende Gesellschaft: „Der König von Havanna“, der zweite Roman des kubanischen Autors Pedro Juan Gutiérrez

Mit „Der König von Havanna“ ist jetzt bereits das zweite Buch des Kubaners Pedro Juan Gutiérrez auf deutsch erschienen. Tun Sie sich einen Gefallen: Lesen Sie es nicht. Lesen Sie irgendetwas anderes. Etwas von Bukowski oder Henry Miller beispielsweise, mit denen Gutiérrez sehr zu seinem Missfallen oft verglichen wird.

Wenn Sie aber unbedingt etwas von ihm lesen wollen, dann „Schmutzige Havanna Trilogie“. Haben Sie schon? Dann brauchen Sie das neue erst recht nicht zu lesen. Die Geschichten ähneln sich, die Themen sind identisch: Gewalt, Prostitution, Drogen, Mord, Selbstmord, Fäkalien und Sex, Sex, Sex in allen erdenklichen oder schon nicht mehr erdenklichen Formen. Der Unterschied besteht darin, dass es sich diesmal um einen zusammenhängenden Roman von knapp 300 Seiten handelt und nicht aus der Ich-Perspektive erzählt wird. Stattdessen begleitet man mit dem Erzähler den Protagonisten Reynaldo (kurz: Rey = König) von seinem 13. bis zum 17. Lebensjahr auf dem Weg durch die scheinbar immer tiefer werdenden Abgründe der kubanischen Gesellschaft bis zu seinem endgültigen Untergang: ein kubanischer Antibildungsroman.

Schon nach wenigen Seiten ist man bestens informiert über den schier gigantischen Penis des Protagonisten, der ihm den Titel „Der König von Havanna“ eingebracht hat. Man wird dieses mit zwei stimulierenden Kugeln gespickte Wunderwerk der Schöpfung durch die sich alle zwei Seiten wiederholende Beschreibung ebenso wenig wieder vergessen wie die „säuerlich stinkende Möse“ seiner Freundin Magda. Vergeblich sucht man die im ersten Buch noch durchscheinende kubanische Lebensfreude, jetzt heißt es: „Ein Armer in einem armen Land kann nur darauf warten, dass die Zeit vergeht und ihm einmal die Stunde schlägt.“ Keine Spur mehr von Hoffnung auf irgendetwas, nur zerstörte Menschen, die kranke Dinge tun und sich letzten Endes gegenseitig zugrunde richten.

Sie wollen das Buch immer noch lesen? Dann hören Sie wenigstens zehn Seiten vor Schluss auf. Außer Sie wollten immer schon mal wissen, wie es ist, mit der gerade ermordeten Freundin zu schlafen. Und wie es sich dann noch mal einige Stunden später anfühlt: „Nie hatte er etwas so Kaltes an seinem Schwanz gespürt. Und gleich darauf kam er.“ Wie schnell die Verwesung fortschreitet, wann die ersten Aasgeier kommen und warum es keine gute Idee ist, jemanden in einer Müllhalde zu beerdigen.

Gutiérrez sagt, er möchte die Realität nicht verdrehen, aber ist es Aufgabe der Literatur, die Realität mit größtmöglicher Brutalität einfach nur abzubilden? Und möchte man das lesen? Zumal der bisweilen fast lustvolle Unterton bei der Schilderung unerträglich brutaler Szenen doch irritiert. Dass er einfach nur provozieren will, diesen Gedanken weist der Autor übrigens empört von sich. Noch haben Sie die Wahl: libertad o muerte. Und sagen Sie hinterher nicht, Sie wären nicht gewarnt worden!

TINA GINTROWSKI

Pedro Juan Gutiérrez: „Der König von Havanna“. Aus dem Spanischen von Harald Riemann. Hoffmann und Campe, Hamburg 2003, 287 S., 19,90 €