Auf dem Eis

Ein vergessener Komponist, eine nach sechzig Jahren wiederentdeckte Partitur und ein Notenprogramm: Wie das Theater Trier mit Manfred Gurlitts „Nordischer Ballade“ eine unentdeckte Exiloper hebt und sie an Edgar Wallace verschenkt

von OLIVER RUF

Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Russland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. (Robert Musil)

Niemand hat seine Existenz geahnt. Sechzig Jahre schlummerte das Stück im Notenkoffer. 340 Seiten, handschriftlich auf fleckigem Papier. Eine komplette Oper – nein, nicht vollständig, nur die Partitur. Freilich gibt es alle Stimmen: allein, zu zweit und auch im Chor. Dazu die Instrumentengruppen: Blech, Holz, Streicher. Und den Rhythmus. Doch zur Aufführung verlangt jedes Instrument sein eigenes Notenmaterial; die Sänger benötigen einen Klavierauszug. Das konnte die Partitur allein nicht bieten. Zudem war sie an vielen Stellen unleserlich. Ein Fragment, womöglich gar nicht zur Aufführung bestimmt.

Die „Nordische Ballade“ stammt von einem Komponisten, den heute kaum mehr jemand kennt. Manfred Gurlitt (1890–1972) hat die Partitur und das Libretto verfasst. Dass die „Nordische Ballade“ in seinem Nachlass in der Musikbibliothek der Hamburger Universität überhaupt entdeckt wurde, ist das Verdienst des Intendanten und Regisseurs Heinz Lukas-Kindermann, der die „Nordische Ballade“ jetzt am städtischen Theater Trier inszeniert hat.

Wie das? Die Partitur allein war doch unbrauchbar? Heinz Lukas-Kindermann ließ das Orchestermaterial eigens anfertigen – jedoch nicht von renommierten Musikverlagen (die zu teuer gewesen wären) und nicht von Spezialisten (auch zu teuer), sondern von Mitarbeitern am eigenen Haus. Chordirektor Eckhard Wagner übertrug mit seinem Münchner Kollegen Tobias Vogt die Partitur mit Hilfe eines Notensatzprogramms in den Computer. Sie verzeichneten Dynamik und Artikulation, erstellten die Notenauszüge für die Instrumentengruppen und interpretierten Gurlitts Handschrift.

Nach drei Monaten und 1.100 Arbeitsstunden konnten sie schließlich 3.500 ausgedruckte Seiten mit insgesamt zwei Millionen Zeichen vorlegen. Damit war das Stück operntauglich. Ob Gurlitt das gewollt hätte? Selbst seiner Frau Hisako Hidaka, die zur Premiere aus Japan anreiste, hatte er nie von der „Nordischen Ballade“ erzählt.

Als Gurlitt 1943/44 die Partitur schrieb, lebte er bereits seit vier Jahren im japanischen Exil. Seiner über zwanzigjährigen erfolgreichen Karriere als Dirigent und Opernkomponist hatte die deutsche Reichsmusikkammer ein jähes Ende bereitet. So genannte Vierteljuden wie Manfred Gurlitt mussten Schikanen und Diffamierungen ertragen. Gurlitts Werke wurden verboten, er selbst erhielt Arbeitsverbot.

Weiteren Repressalien entging er nur äußerst knapp, und er flüchtete, geächtet und verfemt, ins asiatische Ausland. Dort geriet er in eine künstlerische Krise. Denn in Japan gab es zu dieser Zeit keine vergleichbare Musiktradition, wie Gurlitt sie vertrat. Seine Musik war den Japanern völlig fremd. Auf der Suche nach einem Opernstoff stieß er schließlich auf „Herrn Arnes Schatz“, ein skandinavisches Märchen, das die schwedische Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf 1904 veröffentlicht hatte und von der tragischen Liebe des Mädchens Elsalill erzählt.

Die Oper spielt in einem kleinen schwedischen Fischerdorf während des Dreißigjährigen Krieges. Sir Archie, Sir Philip und Sir Reginald, drei schottische Söldner, sind aus der schwedischen Gefangenschaft entkommen und ermorden den Pfarrer Arne Arneson und seine Familie, um den Kirchenschatz zu rauben. Stieftochter Elsalill überlebt als Einzige die Blutorgie. In einer Szene nach dem Mord steht sie am Horizont unter nordischem Himmel. „Meer. Meer. Leblos wie mein Herz. Meer, Meer, starr wie mein Schmerz. Freudlos meine Tage, friedlos mein Blick, sehe keine Sonne, fern von jedem Glück“, klagt Elsalill übers Wasser. „Kenne nur die Sehnsucht, nicht mehr zu sein, komm, du grauer Würger, ende meine Pein.“

Die Söldner wollen mit dem erbeuteten Schatz über das Meer fliehen, aber das nordische Eis hält sie am Schauplatz der grausamen Tat gefangen. Die Dorfbewohner meinen, die Mörder seien im eisigen Winter umgekommen. Doch die warten unerkannt auf besseres Wetter. Freikommen kann ihr Schiff erst, wenn das Eis aufbricht.

Regisseur Heinz Lukas-Kindermann lässt die „Nordische Ballade“ in skandinavischer Mystik schwelgen. Die Bühne von Susanne Thaler trägt denn auch ein dunkel dräuendes Gewand. Da gibt es die Welt der Toten, die auf Rache sinnen und die Lebenden in Träumen und Visionen heimsuchen. Kaum Licht dringt in die Kulissen. Felsen wachsen von allen Seiten in die Szenen. Herrn Arnes Hof schaut trist und traurig aus. Gemordet wird im Dunkeln. Elsalill verkriecht sich in ein Häuschen, das schlichter nicht sein könnte. Dort lernen Elsalill und die Mörder sich persönlich kennen – ohne voneinander zu wissen, wer sie wirklich sind: Opfer und Täter.

Dirigent Andreas Henning unterstreicht die unsichere Wetterlage der „Nordischen Ballade“, indem er es aus dem Orchestergraben grollen und gewittern lässt. Hierzu hat ihm Gurlitt eine zweckmäßige Vorlage geliefert: eine Oper, die fast gänzlich auf Tenöre verzichtet und deren dominierende Frauenstimme ein Mezzosopran ist. Kaum eine Spur von lyrischen Ausflügen in hellere Tonlagen. Dumpf und düster brodelt die Musik, dramatisch und opulent.

Ein spätromantisches Werk im Sinne Richard Wagners, das ist die „Nordische Ballade“. Allerdings fügt sie sich so ganz und gar nicht in die zeitgenössische, zum Teil atonale Entwicklung ihrer Entstehungszeit. Gurlitt begegnet seinem künstlerischen Exil mit musikalischem Stillstand. Ihm gelingt es nicht, die starre Musikmanschette um seinen Opernton abzulegen. In der „Nordischen Ballade“ tönt ein Stil, der mit seiner atmosphärischen Dichte, seiner Symbolkraft und Wortmagie in eine andere, eine frühere Opernzeit gehört.

Die Stagnation, das Verharren in der deutschen spätromantischen Tradition auch nach der Vertreibung aus seiner Heimat, findet ihren Widerhall in der tragischen Figur der Elsalill, die sich in Sir Archie, den Anführer der Mordbande, verliebt und von ihrer untoten Schwester die Wahrheit über ihn erfährt. Unfähig, sich zwischen Gerechtigkeit und Liebe zu entscheiden, gerät Elsalill in einen tiefen Konflikt. Eva-Maria Günschmann singt und spielt die „streitbar junge Jungfrau“ in all ihrer Zerrissenheit. Mal zürnt das Mädchen, weint und trauert. Dann küsst es voll Leidenschaft, ist ängstlich verletzt, verschüchtert und doch stark genug, um Sir Archie an die Landsknechte zu verraten – nicht ohne ihn zu warnen und fortzuschicken.

Hünenhaft von Gestalt, steht Andreas Scheel als Sir Archie vor Elsalill. „Wolfsjunges, du. Als ich zum ersten Mal dich auf der Brücken sah, da wollte ich dich töten. Nur das Gelächter über deine wilde Wut nahm mir den Zorn, dass wir zu morden dich versäumt.“

Kaum anders dürfte sich Gurlitt gefühlt haben: Den Nazis entkommen, erreicht ihn selbst in Japan der lange Arm des Dritten Reichs; das japanische Kaiserhaus verbündet sich mit Hitler. Gurlitt darf bis Kriegsende auch in Japan nicht mehr arbeiten. Elsalill stirbt an einer Kugel der Landsknechte, weil Sir Archie das Mädchen seinen Verfolgern entgegenstößt.

Heinz Lukas-Kindermann widersteht der vielleicht zu nahe liegenden Versuchung, die Tragik Gurlitts mit der Elsalills kurzzuschließen. Aber warum tragen die schwedischen Landsknechte Trenchcoats und coole Hüte? Warum sind die schottischen Söldner in Lederfräcke und Polyestersakkos gekleidet, als sei die „Nordische Ballade“ eine Mafia-Oper? Der Hang zur Gangsterkostümierung verrät den tragischen Stoff der Gurlitt-Oper letzten Endes an eine Krimifarce auf Edgar-Wallace-Niveau.

Gewiss lässt sich die Geschichte von „Herrn Arnes Schatz“ auch als Psychothriller lesen – das Opfer, das den Verbrecher liebt und daran zugrunde geht. Das seltsam traurige Happy End unterstreicht nur die Tragik. Als die Mörder schließlich überwältigt sind, bricht endlich das Eis, und die Sonne kommt aus den Wolken hervor: „Hei, wie der Sturm das Eis zersplittert, das aufgetürmt unüberwindlich schien.“

Der Vorhang fällt, und Nico Wouterse als alter Fischhändler Torarin, der bereits zu Beginn der Oper monologisiert hat, tritt auf. In den Sturm mischen sich neue Stimmen. Jubel jauchzt aus den Hälsen der Wildgänse, die nun gen Norden ziehen. Ein Harfenakkord klirrt. Torarin basst: „Die grause Mär von Mord und Tod verklingt. Und niemand mehr begehrt Herrn Arnes Schatz.“ Die Wolkenwand hat sich verzogen, der Himmel ist blau, die Sonne strahlt. Auf dem Eis liegt die tote Elsalill. Manfred Gurlitt aber ist auferstanden – durch eine unbekannte Oper. Ironie des Schicksals.

OLIVER RUF, 25, lebt als freier Journalist in Trier