Die Intellektuellen Kerneuropas drücken sich wortreich

Die europäischen Denker, die heute so vehement die Visionen einfordern, deren Produktion sie selbst zumindest versäumten, wenn nicht gar verhinderten, haben über Jahrzehnte hinweg nichts getan, um dem europäischen Projekt eine kulturelle Strahlkraft zu verpassen. Eine Polemik

BERLIN taz ■ In einer konzertierten Aktion haben die üblichen verdächtigen Intellektuellen – darunter Jürgen Habermas, Jacques Derrida und Umberto Eco – in den üblichen verdächtigen Intellektuellenblättern – unter anderen FAZ, Libération und El País – unübliche Aufrufe verfasst: für eine „attraktive, ja ansteckende Vision für ein künftiges Europa“.

Dass dieses Europa nicht so sehr künftig, sondern vor allem ganz schön gegenwärtig ist, ist ebendiesen Möchtegernvisionären in den vergangenen Jahrzehnten weidlich entgangen. Die ideologiekritische Tradition der intellektuellen Meinungsführer betonte die – kapitalistischen – Gemeinsamkeiten des Westblocks. Das europäische Einigungsprojekt stand unter US-amerikanischem Schutz und damit unter ideologischem Generalverdacht. Das war zwar bereits in den Achtzigerjahren viel zu armselig gedacht; schon seit Airbus und Ariane, also seit bestimmt 25 Jahren, ist klar, dass sich das europäische Projekt zumindest teilweise in Konkurrenz zu den USA definieren muss. Doch seit mindestens 13 Jahren ist das ideologische Lagerdenken schlicht falsch. Mit dem Zerfall des Ostblocks wurde klar, dass Europa für die USA nur noch von peripherem Interesse ist.

Seit dem Zerfall Jugoslawiens, also seit 10 Jahren, ist klar, dass dieses Europa eine eigenständige Außenpolitik braucht. Doch noch heute unterstellen die europäischen Großdenker einem deutschen Außenminister Amtsmüdigkeit, wenn er sich für den Posten des europäischen Außenministers interessiert.

Kennzeichnend für die Armseligkeit des Europabildes unserer Bedenken- und Friedenspreisträger ist Habermas’ Versuch, den 15. Februar 2003 als „Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit“ zu heiligen. Als ob Ohnemichel-Demonstrationen, und seien sie noch so zahlreich, ein kontinentales Bewusstsein stiften könnten! Das hätten die Großdemonstrationen gegen das Massaker von Srebrenica gekonnt. Aber die gab es nicht. Das hätte auch der großintellektuelle Appell von 1993 für die schnellstmögliche Aufnahme Polens in die EU gekonnt. Aber auch den gab es nicht.

Sowohl für die ökonomische Entwicklung Osteuropas als auch für die militärische Intervention auf dem Balkan musste Europa die Hilfe der USA in Anspruch nehmen, weil sich die kontinentalen Vordenker nicht aus der biedermeierlichen Beschaulichkeit ihrer kerneuropäischen Ferienhäuser befreien konnten.

Der Vertrag von Maastricht trieb in den Neunzigerjahren die ökonomische Integration Westeuropas voran. Die gleichzeitige Desintegration des Ostblocks machte die Entwicklung neuer Integrationskräfte nötig. Doch mehr als allgemeines Unbehagen war Habermas und anderen hierzu nicht zu entlocken – wo doch schon die erzwungene Verbrüderung mit Sachsen und Mecklenburgern den mühsam erreichten zivilisatorischen Grundkonsens sprengte, dass keiner dem Großinquisitor zu widersprechen hatte.

Wenn die europäische Einigung in der Vergangenheit zu sehr auf die Ökonomie und zu wenig auf Politik und Kultur ausgerichtet war, wenn ihr Visionen und Ideale fehlen, dann handelt es sich hierbei vor allem um ein Versagen genau der Intellektuellen, die heute so vehement die Visionen einfordern, deren Produktion sie selbst zumindest versäumt, wenn nicht gar verhindert haben. Sie haben über Jahrzehnte hinweg nichts getan, um dem europäischen Projekt eine kulturelle Strahlkraft zu verpassen – und sie haben damit seit mindestens 13 Jahren genau denjenigen in die Hände gearbeitet, gegen die sie jetzt aufzubegehren versuchen.

Kein Blut für Öl? Geschenkt! Welches Blut für welches Europa? Das ist die Frage, vor der sich die kerneuropäischen Intellektuellen seit vielen Jahren wortreich drücken. DETLEF GÜRTLER