Treibgut in einem Meer des Ungefähren

Der Flügel eines Schmetterlings: Richard Weihe erzählt in seinem Roman „Meer der Tusche“ vom Leben des Malers und Kalligrafen Bada Shanren im China des 17. Jahrhunderts. Dabei beschreibt Weihe auch die Suche des Malers nach der Sprache – und wie dieser zuletzt ganz in dieser Sprache aufgeht

von MATTHIAS ECHTERHAGEN

Am Schluss setzt Shanren sich noch einmal hin, um ein letztes Bild zu malen. Doch die Kräfte verlassen den Gealterten. Der Pinsel fällt ihm aus der Hand. Das Fässchen Tusche kippt um, Shanren bricht über seinen Utensilien zusammen. Sein Gewand saugt sich mit Schwärze voll. Bildlicher könnte man sich diesen Tod kaum vorstellen.

Richard Weihes Erzählung über Bada Shanren, den chinesischen Maler und Kalligrafen, hat von der ersten bis zur letzten Seite etwas Zwangsläufiges. „Meer der Tusche“ beschreibt die Suche des Malers nach der Sprache – und wie er zuletzt ganz in dieser Sprache aufgeht. Mit Bada Shanren (1626–1705) führt der Autor eine historische Figur ins Feld, die so schillernd ist, dass man sich freuen darf, eine erste nicht-wissenschaftliche, in Prosa geschriebene Skizze von ihr zu bekommen. Wie Shanren seine Bilder malte, wie er besonders kühn den Pinsel ansetzte und aus dem Schatten seiner Vorgänger trat, das schreibt Weihe entlang von zehn chronologisch angeordneten Bildern noch einmal nach.

Das liest sich stellenweise so spannend, dass man das Gefühl bekommt, dem Maler selbst bei der Arbeit über die Schulter zu sehen. Eine Deutung erspart der Autor uns aber, und zuerst erscheinen die Bilder wie unverhoffte Offenbarungen des Helden. Der redet wenig, und wenn, dann vertrackt und nicht ohne Verrücktheits-Gesten.

Die frühesten Spuren sind da von erlesener Einfachheit: Als Zögling und Prinz einer von der regierenden Ming-Dynastie abstammenden Familie, lernt Shanren, der noch Zhu Da heißt, zunächst ganz unverblümt das Wirken der schwarzen Tusche kennen. „Einmal ließ ihn der Vater barfuß in ein Becken voll Tusche treten und dann über die Länge einer Papierbahn hinweggehen. Zhus Abdrücke waren anfangs nass und schwarz, wurden von Schritt zu Schritt heller, bis sie kaum mehr zu sehen waren. Dann hüpfte er vom Papier wieder auf den Fußboden. Der Vater griff zum Pinsel und beschriftete das Rollbild am oberen Rand: Ein kleiner Abschnitt auf dem langen Weg meines Sohnes Zhu Da.“

Mit acht schreibt der so zärtlich Behütete schon Gedichte, er ist ein besonders guter Siegelschnitzer und wird von allen bewundert. Doch 1644, er hat schon Frau und Kind, fallen mandschurische Truppen in China ein und lassen von der Ming-Dynastie nichts mehr übrig. In den Kriegswirren stirbt sein Vater, die Familie bricht auseinander, er selbst muss vor den Häschern fliehen. Die nächsten 20 Jahre verbringt er in einem Kloster – trauernd um das, was war. Nun malt er. Monde, Felsen, Pflanzen und Tiere. Es sind schwerelose Motive, Treibgut in einem Meer des Ungefähren. Nur manchmal sind einem Gesicht Stimmungen abzulesen. Dann guckt der Fisch „hinauf zum Blattrand mit einem Ausdruck, in dem sich Angst, Argwohn, Abgeklärtheit und Verachtung mischten“, und zugleich hält er „seinen Mund weit geöffnet, als wollte er eben etwas sagen“.

Mit den Jahren geht etwas von dieser ins Bild gesetzten Gepresstheit verloren. Shanren wird Menschen gegenüber humorvoller, Dingen und Tieren gegenüber nachlassend und taktvoll. „Eine letzte feine Berührung des Papiers, so sanft, als gelte es, den Flügel eines Schmetterlings mit Farbe zu betupfen.“ Als Leser bleibt man lang bei den ausklingenden Sätzen – und blättert irgendwann zum Nachwort weiter. Dort legt der Autor seine Quellen offen. Die Forschungsliteratur, die es inzwischen gibt, sucht Shanrens chiffriertes Werk möglichst exakt durch Aufspüren der Verschränkungen von Leben und Bildern zu entziffern. „Meer der Tusche“ kann eine abschließende, poetische Verdichtung sein und für die, die mehr wollen, ein schöner Einstieg.

Richard Weihe: „Meer der Tusche. Erzählung mit zehn Bildern“. Nagel & Kimche, München, Wien 2003. 117 S., 14,90 €