Abkürzung zum Tode

Wo Sex ist, ist Metaphysik nicht weit: Andreas Kriegenburg inszeniert Michel Houellebecqs pornografischen Roman „Plattform“ in Hannover

Frauen müssen früher sterben, damit die Männer unglücklich sein dürfen

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Es ist manchmal gar nicht so einfach, bei der Arbeit nicht an Sex zu denken. Michel läuft erst zu Hochform auf, als er das eine mit dem anderen verbinden kann. Da sprechen die fünf Alter Ego, mit denen der Regisseur Andreas Kriegenburg die Figur des Michel aus Michel Houellebecqs Roman „Plattform“ auf die Bühne schickt, endlich im Chor. Sie haben eine Utopie: Sie erfinden den Sextourismus neu, als kürzesten Weg zur Erlösung. Ihr Sprachduktus ist plötzlich pathetisch, die Kraft der Vision von all diesen Mösen und all diesen Schwänzen beflügelt sie. Und wie sie schwärmen von der Befreiung von all diesen Kompliziertheiten des westlichen Individuums – das können sonst nur die glücklichen Führer totalitärer Systeme.

Bis dahin einte die kleine Hilfsmannschaft der Michels nur die Trauer. Michel ist, was keiner sein will: konturlos, frustriert über die eigene Mittelmäßigkeit, allein und fast sprachlos, es sei denn, er ironisiert seine eigene Trivialität. Ihn zum Mittelpunkt zu machen, darin steckt schon die ganze Rache des Autors Houellebecq an einer Kultur der gepflegten Individuation und des intellektuellen Smalltalks. Viele unrasierte Schattierungen erhält dieses Grau in der fünffachen Besetzung. Man langweilt sich nie mit diesen Langweilern.

Das liegt am schönen Bühnenbild von Harald Thor, das den Blick stets wandern lässt zwischen Kabinen aus Glas und dem Regisseur ermöglicht, aus der monologischen Struktur des Textes eine schöne Polyphonie zu komponieren. Das liegt ganz sicher an den beiden Schauspielerinnen Anne Ratte-Polle und Juliane Niemann, die als doppelte Valerie mit Zärtlichkeit und Ironie auf alle Sexfantasien, seien sie männlicher Herkunft oder was auch immer, bedenkenlos einsteigen.

Vor allem aber liegt es am Sex, der ständig verhandelt wird als letztes Mittel von Wirklichkeitserfahrung und Glück und sich doch nie in den Höhepunkten erschöpft. Michel, die Bühnenfigur, führt einen polemischen Diskurs über die Wahrheit der Pornografie gegen die Heuchelei der Kunst. Kunst über Pornografie ist oft peinlich, bemüht und anstrengend, in ihrem Eifer, Differenzen herzustellen. Das ist sie in Kriegenburgs Inszenierung nicht. Die Rede über die Körper bildet ihre schärfste Sprachmelodie. Die dann doch ständig kontrapunktisch und gegenläufig besetzt wird. Eine ganze Palette von Emotionen legt sich übereinander, wenn hinter den Fenstern geweint und gesungen, umarmt und geschmachtet, getrauert und getröstet wird. Die Sprache der Erregung erhält in ihrer anatomischen Genauigkeit, in diesem merkwürdigen Scharfstellen Houellebecqs auf Kontraktionen hier und Entspannungen dort, etwas komisch Distanziertes, wie von gymnastischen Gebrauchsanweisungen.

Was den Regisseur Andreas Kriegenburg an dem Roman von Houellebecq gereizt hat, ist wohl weniger das Potenzial von Skandal und Provokation als vielmehr die Rekonstruktion einer romantischen Perspektive, der die Liebe die ganze Welt ersetzt. Sie steht von Anfang an unter dem Vorzeichen des Scheiterns, denn erzählt wird aus der Erinnerung, und Valerie, ohne die das Glück nicht möglich ist, ist tot. Der Preis, der für den Traum der Sinnstiftung durch den Sex bezahlt wird, ist hoch: Ausstieg aus allen sozialen Verbindlichkeiten, Ich-Fixiertheit, Reduktion der Außenwelt auf die zappelnden Fische nachts auf dem Bildschirm im Spätprogramm. Michel kennt niemand außer Michel. Das ist aber zugleich der Ausgangspunkt des ganzen Dilemmas.

Wo der Sex auf die Bühne kommt, sind der Tod und die Metaphysik nicht weit. Der erste Körper, den Michel in den Armen hält, ist eine Leiche. An den Sex mögen sich vielleicht einmal Bilder von gesellschaftlicher Befreiung gehängt haben, doch jetzt ist er wieder zu einer Abkürzung auf dem Weg zum Tode geworden. Denn der Traum vom sexuellen Glück wird mit dem Tode bestraft, diesmal nicht vom christlichen Gott, sondern vom islamischen Terrorismus. Frauen müssen früher sterben, auch bei Houellebecq und Kriegenburg, damit Männer wieder können, worin sie am besten sind: wortlos unglücklich sein.