Frischfleisch aus dem Kinderheim

In Portugal wurden Waisen jahrelang sexuell missbraucht – auch von Politprominenz

MADRID taz ■ Portugals Öffentlichkeit ist geschockt. Das größte staatliche Waisenhaus des Landes Casa Pía in Lissabon war jahrzehntelang ein Selbstbedienungsladen in Sachen Sex mit Minderjährigen. Carlos Silvino, ein Heimangestellter, missbrauchte die Jungen regelmäßig. Und schlimmer noch: Bibi, so der Spitzname des Mannes, der 30 Jahre lang in Casa Pía arbeitete, führte seine Schutzbefohlenen Reichen und Prominenten aus Kultur und Politik zu. Diese vergingen sich dann in wilden Orgien an den Jungen.

Als „eine vollständig unmenschliche Einrichtung“ beschreibt der Anwalt Pedro Namora Casa Pía. Der heute 38-Jährige wuchs selbst in diesem Heim auf. Jetzt vertritt er die Opfer Bibis und seiner Kunden. Mit Reportern der Wochenzeitung Expresso deckte er das gesamte Ausmaß des Skandals auf.

Diese Ermittlungen brachten Unglaubliches an den Tag: Bibi machte sich die Armut und Einsamkeit der Kinder zunutze. Mit kleinen Geschenken lockte er sie in ein Gartenhaus. „Langsam machte sich Angst unter uns breit“, erinnert sich Namora, der sich selbst einmal vor dem nackten Aufseher wiederfand. Das Geschäft mit den Kindern war perfekt aufgezogen. Einige schickte Bibi auf den Straßenstrich in einem Park der Hauptstadt, andere vermittelte er direkt an reiche und einflussreiche Päderasten. Um die Gesundheit der Kunden zu gewährleisten, wurden die Minderjährigen zuvor von Ärzten auf Geschlechtskrankheiten untersucht.

Bibi wurde im vergangenen November verhaftet. Nach und nach bekommen die Kunden Gesicht und Namen. Unter denen, die in den letzten Wochen verhaftet wurden befindet sich Carlos Cruz, der bekannteste Moderator von TV-Shows in Portugal, der Exanwalt von Silvino „Bibi“, Hugo Marçal, ein Exdirektor von Casa Pía, der ehemalige portugiesische Botschafter Jorge Marques Leitão Ritto sowie der Sprecher der Sozialistischen Partei Portugals, Paulo Pedroso.

Vor allem die Verhaftung Pedrosos löste in Portugal Bestürzung aus. Der 38-Jährige war bis vor kurzem noch Arbeitsminister. Er galt als die junge Hoffnung der portugiesischen Sozialisten, die beim letzten Wahlgang die Regierung an die Konservativen abtreten mussten.

Anzeichen dafür, dass es in dem Waisenhaus nicht mit rechten Dingen zuging, gab es schon lange. So zeigte 1982 die damalige stellvertretende Sozial- und Familienministerin Teresa Costa Macedo „pädophile Umtriebe“ in Casa Pía an. Sie legte der Polizei Dokumente und Fotos vor. „Die Beweise richteten sich nicht nur gegen Bibi“, erinnert sie sich. Bereits damals war der Botschafter Marques Leitão Ritto unter den Verdächtigen. Er soll immer wieder rauschende Feten für ausländische Diplomaten gegeben haben. Der besondere Kick waren die Kinder aus Casa Pía.

Die Polizei verschleppte das Verfahren jahrelang, bis es 1993 mangels Beweise eingestellt wurde. Ritto, der bei den jetzigen Ermittlungen wieder als einer der besten Kunden von Bibis Prostitutionsring auftaucht, setzte seine Karriere unbeschadet fort. Er wurde Botschafter in Südafrika und vertrat sein Land bei mehreren UN-Institutionen.

Der Skandal ist längst nicht vorbei. 128 der über 4.000 Kinder, die zurzeit in Casa Pía leben, wurden Opfer sexuellen Missbrauchs. Die meisten waren taubstumm. Wenn die Opfer von den pädophilen Kunden reden, dann nennen sie sie nur „Herr Ingenieur“ oder „Herr Doktor“. Felicia Cabrita, die Reporterin des Magazins Expresso, die mit Anwalt Namora den Fall recherchiert, ist sicher, dass sich dahinter noch so mancher Berühmte verbirgt. „Diese Schlamm wird alle Parteien beschmutzen“, prophezeit sie. REINER WANDLER