Live aus dem Schlachthaus

Perversion! Faschismus! Serienkiller! Eine 24-teilige CD-Box würdigt die Industrial-Legende Throbbing Gristle. Ohne sie gäbe es keinen Marilyn Manson, auch Aphex Twin würde anders klingen

Für Throbbing Gristle zeigte sich im Schock eine unterdrückte Wahrheit

von ANDREAS HARTMANN

„Die Frau schneidet dem Mann den Hodensack auf, presst die Hoden heraus, ohne Hast, ohne Lust oder Hass, ohne Gefühl, und schneidet die Samenstränge durch. Die Männerschenkel, mit Nylonschnur gefesselt, zittern. Die vom Knebel unterdrückten Schreie des Mannes vernichtet die erbarmungslose Musik. Sie werden dadurch nur lauter und dringlicher. Entsetzlich.“ Mit diesen Worten beschreibt der Musikjournalist Reinhold Brunner Ausschnitte jenes Films, den die Londoner Industrialband Throbbing Gristle vor ihrem Konzert am 10.November 1980 im Frankfurter Städel zeigte. Im weiteren Verlauf seiner Konzertbesprechung stellt der Autor die Vermutung an, dass die Kastration real stattgefunden haben musste, so real wirkte das Gesehene auf ihn.

Schockierend. Wie die Summe, die erst vor kurzem auf eBay für das auf weltweit 70 Stück limitierte originale Köfferchen mit 24 Cassetten, allesamt einstündige Live-Konzert-Dokumentationen Throbbing Gristles, ausgehandelt wurde: 2.000 Dollar. Die eben erschienene, nicht limitierte Wiederveröffentlichung dieses 1979 herausgebrachten Schatzes auf 24 CDs kostet nur ein Zehntel dieser Summe. Aber auch für das auf 50 Exemplare limitierte Throbbing Gristle-Bootleg „Live from the Death Factory“ werden bis zu 2000 Dollar hingeblättert. Nicht von ungefähr erschienen die fast immer limitierten Originalpressungen auf Labels mit Namen wie „Fetish Records“.

Bizarr. Wie alles rund um die Industrial-Culture, deren wichtigste Protagonisten Throbbing Gristle sind. Sie prägten mit ihrem Label „Industrial Records“ - anlässlich dessen 25 jährigen Jubiläums die CD-Box erscheint - und dem Motto „Industrial Music For Industrial People“ ein Genre, das selbst John Savage, Autor des Punk-Standardwerks „England’s Dreaming“, „den wahren Soundtrack für das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts“ nannte. Industrial kam, wie Punk, in den späten Siebzigern auf und hatte Anfang der Achtziger, wie Punk, seinen Zenith schon wieder überschritten. Dennoch ist ihr Einfluss bis heute immens: Ohne sie gäbe es keinen Marilyn Manson, und auch die Remixe von Aphex Twin würden anders klingen.

Industrial und Punk waren Teil derselben Aufbruchstimmung. Beiden Bewegungen ging es um den Entwurf einer völlig neuen Ästhetik und darum, die marktbeherrschende Plattenindustrie zu ignorieren und möglichst eigene Vertriebs- und Kommunikationskanäle zu etablieren. Industrial Records war dann auch die erste Plattenfirma überhaupt, die manche Aufnahmen ausschließlich auf Kassette herausbrachte. Was Punk und Industrial voneinander unterschied, war das Ausmaß ihrer Radikalität. Punk war radikal, Industrial aber ging es nicht nur um reine Energie, Authentizität und ein Zurück zur Primitivität, sondern auch um die Vertonung der Apokalypse und um die Umsetzung des futuristischen Ideals, den reinen Fabrik- und Schlachtenlärm zu Musik umzufunktionieren.

Schockieren. Um jeden Preis. Für Throbbing Gristle war der Schock nichts anderes als das Aufzeigen einer unterdrückten Wahrheit. Bilder von Schädelbergen im KZ, von Hinrichtungen auf dem elektrischen Stuhl, alles, was man gerne aus dem kulturellen Gedächtnis streichen würde – Throbbing Gristle pflasterten damit Plattencover und News-Infos zu, gaben den Stücken Titel wie „Zyklon B Zombie“ und trugen Charles Manson als T-Shirt-Aufdruck spazieren. Sie verstanden sich als Aufklärer und betrachteten es als Aufgabe, den öffentlichen Diskurs mit Gegeninformationen zu penetrieren. Die drei großen Themen der Industrial-Culture waren dementsprechend Fetisch-Sex und sexuelle Perversionen, Faschismus und Serienkiller.

Obwohl nichts schneller abstumpft als die Schockmethode von gestern, macht es Sinn, gerade heute ein Mammutprojekt wie die TG-24-Box auch Rezipienten jenseits der beinharten Fanschar zugänglich zu machen – nicht zuletzt, weil die Popmusik derzeit so blutleer ist, wie sie es wohl nie zuvor in ihrer Geschichte war. Pop ist schön, alles ist Pop, Pop ist vor allem aber auch egal.

Für Throbbing Gristle jedoch lag die Spannung von Popmusik in der Mischung aus Ritual und Gesamtkunstwerk. Deshalb wurden damals alle Konzerte von ihnen mitgeschnitten. Dieser dokumentarische Übereifer, dem die monströse Kompilation-Box geschuldet ist, stammt noch aus der Zeit, in der die TG-Mitglieder Genesis P. Orridge und Cosi Fanni Tutti Teil der international erfolgreichen Performance- und Fluxus-Kunstgruppe „Coum Transmissions“ waren. Ihre Kunst, die der Autor Simon Ford in seinem Buch „Wreckers of Civilisation“ mit den extremen Arbeiten der Wiener Aktionisten vergleicht, bestand in Happenings, die meist akribisch dokumentiert wurden, um wenigstens im Dokument ein bleibendes Artefakt zu erhalten.

Die starke Kunst-Affinität Throbbing Gristles bezeugen auch die der Box beigelegten Postkarten mit grellbunten Collagen, die an das von Brion Gysin erfundene und von William S. Burroughs fortgeführte Prinzip des Cut-ups erinnern, einer völlig willkürlichen und auf Zufall beruhenden Montagetechnik. Nicht umsonst pflegte Genesis P. Orridge jahrelang einen regen Austausch mit Borroughs, der schliesslich dazu führte, dass Borroughs frühe Aufnahmen für eine Platte auf Industrial Records bereit stellte.

Auch die der im Camouflage-Military-Look gehaltenen Box beigelegten Sticker und Buttons mit dem Symbol TGs, einem nur unwesentlich abgewandelten SS- Blitz, sind mehr als reine Beigabe. Sie erinnern an das Konzept von Industrial Records, auf möglichst einfache und doch aufsehenerregende Art und Weise für sich die Werbetrommel zu rühren. Andere Plattenfirmen mussten für teures Geld Anzeigen schalten, den kontroversen TG-Blitz als eye-catcher trugen Fans der Band als wandelnde Werbesäulen kostenlos spazieren.

Die TG-24-Box kommt gerade recht in einer Phase, in der die elektronische Musik von heute immer noch nicht ihre Re-Historisierung abgeschlossen hat. Acts wie Andrew Weatherall oder Stereolab haben zwar schon immer betont, welch wichtiger Einfluss Throbbing Gristle für ihre Musik war, doch anders als bei Kraftwerk und Krautrock hat sich der Einfluss von Industrial auf die aktuelle Elektronik noch nicht überall herumgesprochen. Andererseits wird die Wiederveröffentlichung nicht das letzte sein, was man von TG dieses Jahr zu hören bekommt. Eine CD mit einführendem Material zu Throbbing Gristle erscheint demnächst und sogar von einem Reunion-Konzert in der Londoner Tate-Gallery wird gemunkelt.

Throbbing Gristle – TG-24-Box – Industrial/Mute