Die Lehre aus der Leere

TAZ-SERIE Agenda 2010, Teil 7: Das rot-grüne Reformpaket bringt Ängste und Abstürze, aber keine Anfänge und Hoffnungen. Es fehlt ein plausibles Versprechen für die Zukunft

Der zentrale Mangel der Agenda: Man muss das Ganze denken, wenn man Teilereformieren will

Die Agenda 2010 ist der erste Versuch, den deutschen Sozialstaat umzubauen und auf eine neue Grundlage zu stellen. Während man in den vergangenen 125 Jahren hierzulande in der Außenpolitik allerlei Zusammenbrüche und Neuanfänge erlebt hat, blieb die Architektur des Sozialen seit Bismarcks Zeiten im Wesentlichen unverändert. Eine lange Katastrophengeschichte dort, eine einzige Erfolgsgeschichte hier, und beides hängt zusammen: Nur dank eines robusten Sozialstaates konnten Land und Leute all die Umbrüche einigermaßen überleben.

In dieser Perspektive springen die Schwächen des Reformpaketes „Agenda 2010“ der rot-grünen Bundesregierung sofort ins Auge. Es kam zu Neuorientierungen, in der Außenpolitik wie jetzt in der Sozialpolitik, nicht weil sich neue und bessere Ideen rasch und widerstandslos durchgesetzt haben, sondern weil die alten Routinen und Institutionen langsam obsolet wurden, nichts mehr erklärten, immer tiefer in Sackgassen führten.

Ob Konrad Adenauers Westbindung, Willy Brandts Ost- und Entspannungspolitik oder auch Helmut Kohls Europapolitik – alle diese Neuorientierungen hatten eines gemeinsam: Es gab gute Gründe für die Abschiede und Ausstiege aus unseligen Traditionen oder auch nur Selbstblockaden. Gründe, die offen und leidenschaftlich benannt, debattiert und durchgehalten wurden. Und es gab plausible Hoffnungen, dass es nach einer Neuorientierung im entsprechenden Politikfeld besser werden würde. Die Neuorientierungen in der bundesdeutschen Außenpolitik etwa verbanden historische Tiefenschärfe mit einem mutigen, aktiven Blick in die Zukunft.

Das galt auch für die einzige wirklich neue Weichenstellung in der Gesellschaftspolitik: die Einführung der sozialen Marktwirtschaft im Jahre 1948. Der Paradigmenwechsel konnte damals nicht versprechen, dass morgen schon alle Probleme beseitigt, Vollbeschäftigung wieder hergestellt, alle Armut überwunden und im deutschen Kino bald „Casablanca“ zu sehen sein würde. Alles was Ludwig Erhard und die Christdemokraten damals hatten, waren eine Idee und ein Entwurf: dass eine freie Wirtschaft eine Dynamik entfaltet und Wohlstand für alle schafft, die ex ante niemand für möglich gehalten hätte – und deren Folgen dann ex post allen zugute kommen konnten.

Die soziale Leistung der Erfinder der sozialen Marktwirtschaft bestand darin, Zugänge für alle zu schaffen – und einen Reichtum, von dem dann auch jene Menschen in Deutschland profitieren konnten, die nicht (mehr) im Erwerbsleben standen. Danach, fast fünfzig Jahre lang, konnte es dann so weitergehen – und es ging ja auch recht lange recht gut.

Rückblick, Analyse, warum was schief gelaufen ist, ein plausibles Versprechen für die Zukunft: Von alledem kann bei der Agenda 2010 nicht die Rede sein. Es herrscht Schweigen darüber, warum der bundesrepublikanische Sozialstaat viele seiner eigenen Ziele nicht erreicht. Keiner benennt Gründe und Ausmaß, wo und wie und warum der Sozial- und Bildungsstaat Ausgrenzungen schafft, die er dann mit viel Geld und wenig Erfolg wieder zu kompensieren sucht.

Niemand erinnert laut und deutlich daran, dass die wirtschafts- und sozialpolitischen Erfolge der Vergangenheit, vor allem im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts, an Voraussetzungen wie Wechselkurs, Wiederaufbau oder nationale Grenzen gebunden waren, die nie mehr wiederkehren werden. Kaum einer dramatisiert, was geschieht, wenn nichts geschieht. Keine Agenda 2010 und weiterer Reformstau bedeuten in naher Zukunft das Ende eines jeden Sozialstaates, weil spätestens um 2030 die Problemlawine aus Schulden, Wachstumsschwäche, Arbeitslosen, erworbenen Ansprüchen ihn unter sich begraben werden. Und schon gar nicht versucht irgendjemand, Hoffnungen zu begründen, dass nach einer Zeit des Übergangs wieder mehr Menschen bessere Chancen haben.

Die Zukunftsbilder von Sozial- und Christdemokraten unterscheiden sich wenig – weil beide keine haben. Sie exekutieren, so sagen sie, das Notwendige. Das aber machen, mit Verlaub, Leichenbestatter auch. Weder werden sie dadurch populär, noch wecken sie positive Gefühle beim Publikum.

Die radikale Absage an jede Vorstellung einer besseren Zukunft bringt die Agenda 2010 um ihre Wirkung

Es ist diese radikale Absage an jede auch noch so bescheidene Vorstellung von einer besseren Zukunft, welche die Agenda 2010 um ihre Wirkung bringt, einen neuen Anfang einzuläuten und die Stimmung in der Bundesrepublik aufzuhellen. Die üble Laune wird zu einem eigenständigen Faktor des Niedergangs. Die einen nörgeln herum, weil die Schritte nicht weit genug gehen oder weil es die falsche Regierung ist, die das Richtige tut. Und wieder andere streuen die tröstliche Vermutung ins Land, dass mit den anstehenden Reformen jede Regierung überfordert sei.

In der Sozialdemokratischen Partei sind viele von der Agenda nicht wirklich überzeugt – und sollen nun andere überzeugen. Innerhalb der christ- und freidemokratischen Opposition, aber auch in der PDS denken viele vor allem an parteipolitische Geländegewinne. So vereinigen sich verschiedene Strömungen zu einem großen Strom: dem kollektiven Gefühl, dass es eigentlich nur schlechter werden könne.

Die Lehre und die Leere der Agenda 2010 entspringen einem zentralen Mangel: Man muss das Ganze denken, wenn man Teile reformieren will. Wer Wege und Anstrengungen legitimieren will, muss auch Ziele benennen können. Man muss sagen können, was warum schief gelaufen ist. Es ist Zeit für politische, nicht nur für buchhalterische Bilanzen. Ein (Sozial-)Staat, der sich vor allem als „Schutzmacht der Schwachen“ begreift, wird gerade diese Aufgabe immer schlechter erfüllen.

Eine lahme Wirtschaft und Gesellschaft reißt so viele Löcher in die sozialen Linien, dass sie ein noch so hektischer Sozialstaat nicht stopfen kann. Es geht ihm wie dem Hasen bei seinem Wettlauf mit dem Igel: Er steigert das Tempo, kommt außer Atem, aber immer zu spät, nie ans Ziel. Aus diesem Dilemma hilft nur eine neue Sicht der sozialen Dinge. Das Soziale muss gleichzeitig enger und weiter gefasst, hier abgebaut und dort neu geschaffen werden; es kann hier weniger und muss dort mehr davon geben. Der Sozialstaat alter Prägung muss sich auf das Wesentliche, auf eine Art Grundsicherung, konzentrieren.

Parallel dazu müssen Städte und Gemeinden in der Bundesrepublik in die Lage versetzt werden, vor Ort eine lokale und damit erfolgreiche Beschäftigungspolitik zu machen – mit Hilfe von Bündnissen lokaler Akteure, die gemeinsam überlegen und sich entsprechend verpflichten, wie sie Integration und Beschäftigung in ihrer Region auch für jene schaffen, die im Wind des freien Wettbewerbs und der freien Märkte eigentlich keine Chance hätten. So lange der soziale Blick in Deutschland auf den Zentralstaat und seine Anstalten fixiert bleibt und die lokale Gesellschaft außen vor lässt, wird es für viele soziale Übel keine Remedur, für viele Menschen keine Chancen geben.

Die Zukunftsbilder von SPD und CDUunterscheiden sichwenig – weil beidekeine haben

Das aber bedeutet: weniger Geld in bestimmte, auch schwierige Lebenslagen und mehr Geld in Zugänge, zweite Chancen, Aufstiege und in die Verhinderung von Abstürzen, also eine gewisse Umverteilung vom Sozial- in den Bildungsstaat. Und es erfordert eine nachhaltige Sozialpolitik, die eine soziale Spaltung neuer Art zu verhindert werden sucht: zwischen denen, die soziale Transfers konsumieren, und jenen, die sie finanzieren. Das Prinzip der Gegenseitigkeit erfährt nicht zuletzt von daher seine Legitimation: als Ausdruck einer wechselseitigen Verpflichtung und Verantwortung zwischen den Gewinnern und den – möglichst immer nur zeitweisen – Verlierern des Wandels und der Veränderung.

Gerhard Schröders Agenda 2010 geht weiter als alle früheren Regierungserklärungen in diese Richtung. Dass sie trotzdem ein Dokument der Reparaturen an einem alten Haus bleibt und nicht den Mut hat, eine neue soziale Architektur für die nachindustrielle Gesellschaft zu entwerfen, das hat vermutlich noch einen ganz anderen Grund: Der Gang der Geschichte und Brüche in der eigenen Biografie haben dazu geführt, dass jeder Hauch einer Idee, die als eine noch so bescheidene Utopie verdächtigt werden könnte, bei den Akteuren der gegenwärtig herrschenden Klasse offenbar keine Chance hat.

Darum geht es aber unterm Strich: ob es bessere Alternativen zum Status quo gibt. Dass manche Ideen ausgebrannt sind, ist ja noch kein Grund für eine ideenarme Politik. WARNFRIED DETTLING