Never Walk Alone

Er bietet stabilen Halt auf dem Weg in die Selbstbestimmung und dient als Schutzpatron zur Abwehr von Dämonen: der Erstlingsschuh. Die Geschichte eines Talismans der Moderne

von NIKE BREYER

Vor nur einer Generation konnte man hierzulande gar nicht so selten ein abgelegtes Kinderschühchen am Rückspiegel eines Autos baumeln sehen und sich vielleicht ein bisschen wundern. Bisweilen waren solche Schmuckstücke von Goldschmieden sogar galvaniesiert, also mit einer metallischen Haut überzogen, damit „veredelt“ worden.

Heute ist dieser schöne Brauch der Schuhaufbewahrung fast ausgestorben. Der Rückspiegel, der vorzüglich prädestinierte Ort für Glücksbringer und Talismane, wurde, wenn er nicht moderner Sachlichkeit folgend leer bleibt, größtenteils von konfektionierten Maskottchen übernommen: Objekten mit hohem Amüsier-, Rührungs- oder Niedlichkeitsfaktor wie etwa Plüschversionen von „Tigerente“ oder „Tabaluga“.

Die einstmals hier plazierten Kinderschuhe unterscheiden sich von derartigem Spielzeug. Denn sie sind wirkliche Gebrauchsgegenstände, die einmal eine herausragende Rolle im Leben eines kleinen Menschen und seiner Eltern gespielt haben. Genau das macht Erstlingsschuhe zu einem besonderen Objekt, in dem sich höchstspannend Logos und Mythos kreuzen.

Gibt man das Wort „Erstlingsschuhe“ als Begriff in Suchmaschinen des Internets ein, erhält man eine Liste von Auktionshäusern und Versandanbietern, die unter dieser Bezeichnung fast ausschließlich die Fußbekleidung von Kleinstkindern im Täuflingsalter anbieten. Winzige flauschige Futterale, die mit echtem Schuhwerk wenig zu tun haben und eher dekorativer Babyverschönerung und mütterlichem Spieltrieb dienen.

Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ist eine andere. Erstlingsschuhe bezeichnet die Schuhe, in denen das Kleinkind seine ersten Schritte tut, üblicherweise im Alter von ein bis zwei Jahren – als ein Urakt menschlicher Selbstbestimmung, der schon vor Freud die mythisch-magische Vorstellungswelt der Menschen beschäftigt hat. Der heute geläufigere, moderne Name für dieses Schuhwerk lautet Lauflernschuhe, eine pragmatische Bezeichnung, welcher der schöne alte Beiklang des Initiatorischen fehlt.

Fuß und Schuh spielen in vielen alten Bräuchen, in Mythen, Märchen und im Volksglauben eine wichtige Rolle. Neben einer erotisch-geschlechtlichen Aufladung, die verschiedene Hochzeits-bräuche oder das bekannte Märchen vom „Aschenputtel“ verschlüsselt ins Bild setzen – für die Erstlingsschuh-Thematik ist dies eher von untergeordneter Bedeutung –, erscheint vor allem das Motiv von Besitznahme und Machtergreifung symbolisch an Fuß und Schuh gekoppelt.

Die Formulierung „unter jemandes Pantoffel stehen“ drückt dies ebenso aus wie der alte Jägerbrauch, stolz den Fuß auf das erlegte Wild zu setzen. In dem zeitgenössischen „Rhyme“ einer deutschen Rap-Combo: „Die Welt liegt uns zu Füßen, denn wir stehen drauf“ (aus dem Gassenhauer „Mit freundlichen Grüßen“) wird die alte Formulierung „jemandem zu Füßen liegen“ (besiegt, ergeben sein) mit der modernen Formulierung „auf etwas stehen“ (umgangssprachlich für: schätzen, mögen) zu frischer Ausdrucksstärke gesteigert.

Auch viele Sprichwörter und Redewendungen verwenden das Bild von Fuß und Schuh: „Fuß fassen“, „auf eigenen Füßen stehen“, „auf die Füße kommen“, „mit beiden Füßen/Beinen im Leben stehen“, „auf großem Fuß leben“, „sich einen Schuh (nicht) anziehen“ handeln von der substanziellen Geste des Besitzergreifens, Zuständigseins, aus der auch der Erstlingsschuh seine Symbolkraft schöpft.

Warum? Die ersten Schritte des Kindes manifestieren zu allen Zeiten als äußerlich sichtbares Zeichen den Übergang vom tendenziell objekthaften Dasein, in dem fremder Wille das Kind bewegt, in die Selbstbestimmung. Ein initiationsnahes Erlebnis, welches das Kind in einen neuen entwickelteren Lebensabschnitt entlässt.

Den ersten Laufschuh des Kindes als Unterpfand vitaler kindlicher Machtergreifung mit besonderer Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Anhänglichkeit zu bedenken, erscheint mit Blick darauf nicht weiter überraschend. Ihn darüber hinaus zum Glücksbringer zu erklären, verweist noch auf eine andere Kommunikationsebene, sucht Anschluss an vorrationale, magische Vorstellungswelten.

Auch für diese gelten Rahmenbedingungen. Die Bereitschaft, Erstlingsschuhen Beachtung zu schenken, muss – so darf man vermuten – im europäischen Kulturraum einer Zeit entstammen, die zum einen weiter zurückliegt als der Beginn einer Herrschaft der Vernunft. Andererseits kann sie allzufern auch wiederum sein, da sie schon eine spezifische Vorstellung von Kindsein oder Kindheit bezeugt.

Wie der französische Historiker Philippe Ariès in seiner Studie „Die Geschichte der Kindheit“ andeutet, kann man dies für das Europäische Mittelalter noch nicht in vollem Umfang annehmen. Viele Kinder starben vor dem fünften Lebensjahr, weshalb man sich emotional nicht enger an sie band. Bis 1600 tauchen sie selten auf Gemälden auf, und erst ab dem 15. und 16. Jahrhundert beginnt man mit dem Aufstieg der bürgerlichen Kernfamilie im städtischen Umfeld Kindheit als eine vom Erwachsenenalter getrennte besondere Lebensphase wahrzunehmen.

Diese Tendenz verstärkte sich im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Aufblühen von Erziehungsliteratur und pädagogischen Konzepten (John Locke: „Gedanken über die Erziehung“; Jean Jaques Rousseau: „Emile“) ist Ausdruck davon, dass Kindsein und Kindheit regelrecht entdeckt wurde. Der Brauch, den Erstlingsschuh zu bewahren, dürfte – so darf man mutmaßen – mit dem Aufstieg der Städte als eine Mischform aus altem magischem Denken und sich konstituierendem bürgerlichem Selbst- und Traditionsbewusstsein entstanden sein.

Seit dem Vormarsch von Vernunft und Rationalität im 17. und 18. Jahrhundert haben wir uns angewöhnt, den alten Glauben an die Objekten innewohnenden Kräfte als „irrational“ und „Aberglauben“ auszugrenzen. Verschwunden ist dieser Glaube deswegen aber nicht. Zum Stichwort „Talisman“, einem sozusagen klassischen Accessoire vorrationaler Lebenspraxis, führt der Brockhaus folgendermaßen aus: „Kleine Gegenstände, für die im umgangsprachlichen Gebrauch heute kein Bedeutungsunterschied zum Amulett besteht. Dieses ist jedoch eher ein Unterbegriff von Talisman; der Begriff wird in der zaubertheoretischen Literatur nur für am Körper getragene Dinge verwendet. Eine weitere Unterscheidung betrachtet Amulette als Schutz- und Abwehrhilfen, den Talisman hingegen als aktiv wirkenden Glücksbringer“.

Erstlingsschuhe, am Automobilrückspiegel platziert, besetzen damit ziemlich eindeutig die Funktion eines Talismans als Glücksbringer, der auch mit den magischen Kräften eines Amuletts – Abwehr von Dämonen, alias Unfällen – ausgestattet ist. Der moderne Mensch, so darf man schließen, zeigt sich bis heute nicht volllständig überzeugt von der ausschließlichen Zuständigkeit moderner Wissenschaft für sein Wohl und Wehe und knüpft halb emotional, halb instinkthaft an alte Vorstellungs- und Bildwelten an, die in sein kollektives kulturelles Gedächtnis eingeschrieben sind. Auch Erstlingsschuhe als Abwehrzauber und ein materalisiertes „Schutzpatronat“ gehören hierher.

Kinderschuhe, mithin auch Erstlingsschuhe, sind aber nicht nur Symbol, sondern auch und vor allem konkrete Gebrauchsgegenstände. Als solche hat sich ihre Erscheinung durch den Fortschritt wissenschaftlicher Forschung formal entwickelt. Auf die geschilderte magisch-emotionale Bindung an den Erstlingsschuh hat dies keinen Einfluss, sehr wohl aber auf Trageeigenschaften und Gebrauch.

Die historischen Erstlingsschuhe der Sammlung des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg stammen bis auf zwei Paar aus dem 19. Jahrhundert: Es sind überwiegend schlichte Modelle, vielfach mit der für Kinderschuhe bis heute beliebten Fesselspange, aus weichem Leder gearbeitet. Daneben sind pantoffelartige Schühchen aus Stoff und Samt farbig bestickt und reich verziert und dürften einem begüterten Hausstand enstammen.

Alle im 19. Jahrhundert gefertigten Schühchen zeigen ein konstitutives Merkmal ihrer Zeit (das auch für die allermeisten Erwachsenen-Schuhe gilt): Sie sind über nur einen Leisten gearbeitet, das heißt rechts-links-identisch.

Erst um 1900 setzten sich nach langen Kämpfen von Anatomen, Medizinern und orthopädischen Schuhmachern paarige Leisten in der Schuhherstellung durch, welche die spiegelbildlich asymmetrische Form der Füße berücksichtigen. Seit dieser Zeit ist die paarige Form Standard der Fertigung geworden. Ein Paradigmenwechsel der Schuhgeschichte, der in seinen Auswirkungen auf Fußgesundheit und Tragekomfort kaum überschätzt werden kann.

Bei paarigen Kinderschuhen konnte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts außerdem eine kindgerechte „Entenflossenform“ ausprägen, welche in fundamentalistischem Eintreten für „Natürlichkeit“ die naturbelassene Fußform nachempfindet – in einer Kompromisslosigkeit wie dies bei Erwachsenenschuhen bis auf Ausnahmen bei manchen „Gesundschuhen“, chancenlos ist. Darüber hinaus machten Kinderschuhe im Laufe des 20. Jahrhunderts auch ein paar Wissenschaftsmoden mit. Unter anderem befürworteten Wissenschaftler eine Zeitlang starre Sohlen. Heute haben sich weiche, biegsame Sohlen allgemein als kindgerecht durchgesetzt.

Weiterhin konnte eine quantitative Maßnahme zur Mitte des letzten Jahrhunderts die Passfähigkeit für Kinderschuhe noch einmal verbessern, als fortschrittliche Schuhfabrikanten – angeführt vom Hersteller „Elefanten“ – das WMS-System einführten: Pro Größe werden drei Weiten – weit, mittel, schmal – angeboten. Im Zusammenspiel dieser Errungenschaften können Kinderfüße heute weitgehend anatomiegerecht bekleidet werden. Im Prinzip noch ein Grund mehr, seinen Erstlingsschuhen ihren Ehrenplatz am Rückspiegel wiederzugeben.

NIKE BREYER, taz.mag-Autorin, ist Schuhkulturwissenschaftlerin und lebt in MarburgDie Abbildung auf dieser Seite zeigt Schuhe aus der Ausstellung „Schauplätze der Kindheit“, die noch bis 13. Juli im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zu sehen ist