beiseite
: Elke H. und MRR

Kräftemessen

Es ist so weit. David gegen Goliath, aufmüpfige Tochter gegen strengen Vater. Elke Heidenreich, 60 Jahre alt, gegen Marcel Reich-Ranicki, 83 Jahre alt, einen der letzten Männer mit Biografie, einen Überlebenden des Holocaust; die kleinbürgerliche Elke Heidenreich gegen die TV-Personality schlechthin, den Literaturpapst, den letzten noch lebenden Bildungsbürger! Heute wird sich zeigen: Ist Elke Heidenreichs neue Literatursendung „Lesen!“ wirklich der würdige Nachfolger von Marcel Reich-Ranickis eingestelltem „Literarischen Quartett“?

Mal sehen, wessen kulturelles Kapital schwerer wiegt. Google-Einträge: Marcel 17.700, Elke 15.100. Lieferbare Bücher und Tonträger bei Amazon: Marcel 201, Elke 83, Auszeichnungen: Marcel 19 (darunter 3 Ehrendoktorwürden) , Elke 7 (darunter der Große Kulturpreis der Sparkassen-Kulturstiftung Rheinland). Aber im Ernst: Elke Heidenreich tritt heute nicht wirklich gegen den Übervater an – wahrscheinlich weil Marcel Reich-Ranicki mit seiner für dieses Land untypischen Geschichte ebenso wenig Vertreter seiner Generation ist wie Elke Heidenreich, die nicht wirklich rebellisch war, aber antiautoritäre Gesten, Respektlosigkeit und Liebe für prollige Milieus aufschnappte, entschärfte und hoffähig machte. Und fällt jemandem eine ein, die die Frauenbewegung unkomplizierter in den Mainstream hätte tragen können als Elke Heidenreich mit ihren Brigitte-Kolumnen? Wer könnte heute besser die milde gewordene, moralisierende Ziehmutter der deutschen Literaturnation geben als sie?

Man kann das als hochnotpeinliche Verseichtung betrachten, aber auch als kulturelle Leistung, die sich mit der messen kann, die Marcel Reich-Ranicki vollbracht hat, der Vermittler, der vor allem mit seiner „Abscheu vor abstrakter Verdunkelung“ (FAZ) das Fernsehpublikum zum Schmökern brachte. Insofern sind sich Elke Heidenreich und Marcel Reich-Ranicki ähnlicher, als es zunächst scheint.

SUSANNE MESSMER

„Lesen!“, heute, 22.15 Uhr, ZDF