Wie Guerillas der Zifferblätter

Das Begehren und die Zeitzonen: In „What Time Is It There?“ stiftet Tsai Ming-Liang Beziehungen zwischen zwei Figuren und den beiden Städten Paris und Taipeh. In der hochmodernen Kultur Taiwans macht sein Kino spezifische Zeitrechnungen auf

In der nächsten Einstellung hält er die Urne seines Vaters auf den KnienJean-Pierre Léaudist bereit für überraschende Reinkarnationen

von BERT REBHANDL

Ein Flug von Taipeh nach Paris dauert ungefähr 13 Stunden. Sieben davon verschwinden in der Zeitdifferenz. Man startet am späten Abend und landet am frühen Morgen, weil das Flugzeug langsamer ist als die Erdrotation. Könnte die Technik deren Tempo erreichen, wäre eine seltsame Gleichzeitigkeit möglich, in einer beständigen Bewegung nach Westen, bei der nur gelegentlich ein Datumsprung zu verzeichnen wäre. Vor dem Hintergrund der globalen Kommunikation ist das Fliegen eine paradoxe Erfahrung geworden: Die Bewegung wirkt eigentlich langsam, die Ankunft aber ist immer plötzlich. Das Bewusstsein wird leer, der Blick aber schärft sich an der Monotonie.

So ähnlich kann es einem mit den Filmen von Tsai Ming-Liang ergehen. Der taiwanische Regisseur ist ein Meister in der Inszenierung von Zeit. In seinen langen Einstellungen geht es häufig um kaum merkliche Veränderungen. Ein Motiv für diese evolutionäre Ästhetik ist ganz offensichtlich sein Interesse an Ungleichzeitigkeiten. In der hochmodernen Kultur des urbanen Taiwan macht er spezifische Zeitrechnungen auf.

In „What Time Is It There?“ begibt sich das Mädchen Shiang-Chyi auf den Weg nach Paris. Am Tag des Abflugs kauft sie bei einem Straßenhändler an einer Fußgängerbrücke vor dem Hauptbahnhof von Taipeh noch eine Uhr. Diese flüchtige Begegnung mit Hsiao-Kang stiftet eine Beziehung: zwischen den beiden Figuren, zwischen den beiden Städten, zwischen den beiden Zeitzonen. Taipeh ist Paris immer um sieben Stunden voraus. Hsiao-Kang aber gerät in den Rhythmus seines Begehrens, er möchte sein Leben und das seiner Stadt synchron zu dem von Shiang-Chyi führen. Weil er die räumliche Entfernung nicht aufheben kann, stellt er eben die Uhren um, zuerst nur die eigene, bald aber auch solche an öffentlichen Plätzen. Wie ein Guerilla der Zifferblätter durchquert er die Stadt, er klettert an Fassaden herum und stiehlt sich durch U-Bahn-Gänge und hinterlässt jeweils eine kleine Irritation im Zeitgefüge.

Die Stadt nimmt davon wenig Notiz. Es bedarf einer eigenen Ökonomie der Aufmerksamkeit, um sich in den Filmen von Tsai Ming-Liang zurechtzufinden. Man sieht seinen Figuren niemals an, was in ihnen vorgeht. Eine Expressivität, wie sie aus westlichen Auffassungen von Persönlichkeit und Psychologie resultiert, fehlt ihnen völlig. Entscheidende Dinge geschehen zwischen den Einstellungen. „What Time Is It There?“ beginnt mit einem Todesfall: Ein alter Mann bereitet sich eine Mahlzeit zu, isst, tritt hinaus auf den Balkon, dann wird das Bild schwarz, und in der nächsten Einstellung hält Hsiao-Kang während einer Taxifahrt eine Urne auf seinen Knien umklammert. Er bringt die Überreste seines Vaters zu einer Grabstätte, wo bereits die Mutter und ein buddhistischer Geistlicher warten.

Um dies alles zu begreifen, ist die Kenntnis früherer Filme von Tsai Ming-Liang hilfreich, in denen Hsiao-Kang (Kang-Sheng Lee) ebenfalls bereits die Hauptfigur gewesen war und Tien Miao schon seinen Vater gespielt hatte. In „He Liu“ („Der Fluss“, 1997) wurde der Sohn von einem rätselhaften Schmerz befallen, dessen Spannung sich erst nach einer nicht minder mysteriösen, inzestuösen Begegnung mit dem Vater in der Dunkelheit eines Badehauses für Homosexuelle löst.

Tien Miao, der charismatische Darsteller, der in Taiwan aus vielen Kung-Fu- und Schwertkämpferfilmen bekannt ist und bei Tsai Ming-Liang eine zweite Karriere erlebt, hat in „What Time Is It There?“ nur zwei Szenen. Der ganze Film ist um die Abwesenheit des Vaters gebaut, um seine geisterhafte Präsenz, um seine möglichen Reinkarnationen und um sein Erscheinen an einem unmöglichen Ort. Der Fisch im Aquarium wird genau beobachtet, um keine „menschliche“ Regung zu übersehen. Ungeziefer wird verschont. Die Trauerarbeit produziert Zwangshandlungen. Die Mutter beginnt, systematisch die Wohnung zu verdunkeln und abzudichten, um den toten Vater nicht durch Lichteinfall noch weiter zu vertreiben. Die Tageszeiten verlieren an Bedeutung. Der Sohn liegt nachts wach, weil zu dieser Zeit in Paris Tag ist. Die beiden Welten sind nur einen Schnitt voneinander entfernt, und doch gibt es keine direkte Verbindung.

Shiang-Chyi lebt in Paris ebenso am Rande der Gesellschaft wie Hsiao-Kang in Taipeh. Sie geht ins Kino, nachts stiehlt sie sich durch die Straßen zu ihrem Hotel. Während Hsiao-Kang es in einem Auto mit einer Prostituierten treibt, gerät Shiang-Chyi an eine asiatische Frau, mit der sie eine Nacht verbringt. Die Anonymität der sexuellen Begegnungen ist seit „Vive l’amour“ ein zentrales Motiv bei Tsai Ming-Liang. Es steht in Zusammenhang mit seiner Obsession für osmotische Prozesse. Er entwirft monadische Räume, deren Abgeschlossenheit brüchig geworden ist. Einmal ist es das Wasser aus der Wohnung aus einem höheren Stockwerk, das durch die Decke sickert (in „Der Fluss“), ein anderes Mal ist es ein Loch im Fußboden, das ein Klempner hinterlässt, durch das zwei Wohnungen zu kommunizierenden Gefäßen werden (in der unheimlichen Millenniumsfantasie „Dong – The Hole“).

Es wäre einfach, dies alles metaphorisch zu begreifen, als Bild für die Vereinzelung der Menschen, für das Schweigen in den Familien, für die Erschöpfung nach den wirtschaftlichen Kraftakten, denen sich Taiwan seit den Achtzigerjahren unterworfen hat. Es geht aber um mehr. Den Apartmenthäusern, die aus dem Investitionsboom hervorgegangen sind, verleiht Tsai Ming-Liang eine spezifische Psychosomatik. In „Vive l’amour“ waren die Wohnungen noch leer und steril gewesen, eine Tabula rasa für schnellen Sex. In wenigen Jahren aber haben sich die Bewohner so in die Architektur hineingelebt (und die Gebäude umgekehrt sich in die Körper), dass tatsächlich eine Lebenswelt entstanden ist, zu der noch die Geister der Toten gehören.

Tsai Ming-Liang will die Welt nicht buddhistisch wiederverzaubern, aber er begreift makroskopische und mikroskopische Veränderungen als gleichwertig. Wenn Hsiao-Kang nachts immer in eine Plastikflasche uriniert, dann ist das auch eine unbewusste Abwehr gegen die vegetativen Prozesse des Hauses, gegen das Abwassersystem, gegen die Geräusche, die zwischen den Wohnungen hin- und herwandern, gegen die Mutter, die sich breit macht.

In „What Time Is It There“ weitet er seine Vision eines vielfältigten somatischen Zusammenhangs nun auf die globalen Verhältnisse aus, und er sucht zugleich nach einer Genealogie innerhalb des Kinos. Der schlaflose Hsiao-Kang sieht im Fernsehen „Sie küssten und sie schlugen ihn“ von François Truffaut, den ersten einer Reihe von Filmen mit Antoine Doinel als Hauptfigur, in denen Tsai Ming-Liang wohl seine eigene „biografische“ Arbeit an der Figur Hsiao-Kang wiedererkennt. Der schönste Anachronismus von „What Time is It There?“ ist denn auch eine Begegnung von Shiang-Chyi auf einem Pariser Friedhof mit einem alten Mann, den Jean-Pierre Léaud spielt, der über die Rolle des Antoine Doinel längst hinausgewachsen ist.

Paris und Taipeh sind zwei Städte, deren Wahlverwandtschaft ganz wesentlich durch das Kino geprägt ist. Die französische Cinephilie sprach von einer taiwanischen Nouvelle Vague, als in den Achtzigerjahren mehrere ausgeprägte auteurs zugleich in Erscheinung traten, die Verbindungen sind seither nicht mehr abgerissen. Olivier Assayas hat Hou Hsiao-Hsien beim Karaoke gefilmt, Edward Yang hat Virginie Ledoyen in „Mahjong“ besetzt. Tsai Ming-Liang aber entwirft in „What Time Is It There?“ ein kinematografisches Weltgebäude, in dem die einzelnen Apartments einander unmittelbar benachbart sind, so wie sich zwischen seinen eigenen Filmen immer wieder unvermutet Türen öffnen, Ritzen entstehen, Spiegelungen sichtbar werden.

In Tsai Ming-Liangs jüngstem Kurzfilm mit dem Titel „The Skywalk is Gone“, der als eine Fortsetzung, als Epilog oder als Prequel zu „What Time Is It There?“ zu sehen ist, tauchen Hsiao-Kang und Shiang-Chyi wieder in Taipeh auf. Die Fußgängerbrücke, auf der sie einander getroffen haben, aber existiert nicht mehr, und so verläuft die Geschichte in diesem Fall anders: Das Mädchen geht zu einem Casting, der Junge geht seiner Wege. Die Kommunikation verläuft über die Figuren hinweg. Hsiao-Kang würde sich in Antoine Doinel nicht wiedererkennen, aber Tsai Ming-Liang hat in Jean-Pierre Léaud etwas entdeckt, das der Präsenz des alten Tien Miao entspricht: ein Wissen um die Welt, aus dem kein großes Subjekt entsteht, sondern ein Gefäß, das bereit ist für überraschende Reinkarnationen. So verhält es sich auch mit dem Werk von Tsai Ming-Liang.

„What Time Is It There?“. Regie: Tsai Ming-Liang. Mit Lee Kang-Sheng, Chen Shiang-Chyi, Jean-Pierre Léaud. Frankreich/Taiwan 2001. 116 Minuten