Irans Reformer ohne Ausweg

von BAHMAN NIRUMAND

In der zweiten Nacht in Folge haben tausende Iraner in Teheran demonstriert. Die Proteste richteten sich hauptsächlich gegen das religiöse Oberhaupt im Iran, Ajatollah Chamenei. „Tod für Chamenei“, riefen die Demonstranten auf dem Uni-Gelände von Teheran. Aber auch der Rücktritt von Staatspäsident Mohammed Chatami wurde gefordert. Viele Iraner sind enttäuscht von ihm, dem Mann, auf dem die Reformhoffnungen ruhten.

„Iran befindet sich am Rande des Abgrunds“, schrieben unlängst schon 127 Parlamentsabgeordnete in einem offenen Brief an Revolutionsführer Ali Chamenei. Die Gefahr, die nicht nur die Staatsordnung der Islamischen Republik, sondern sogar die Souveränität des Landes bedrohe, sei noch nie so stark gewesen. In ungewöhnlicher Offenheit und Schärfe beklagen die Unterzeichner, die der Reformfraktion angehören, dass einige Gruppen seit Jahren das Ziel verfolgen, durch Mordattentate, Niederschlagung von Studentenprotesten, Verbot von kritischen Zeitungen und Zeitschriften und durch Willkürurteile der Justiz die Errungenschaften der Reformbewegung zunichte zu machen. Der Wächterrat (siehe Kasten) habe durch seine Blockadepolitik Parlament und Regierung praktisch lahm gelegt. Das Vorgehen der Justiz, die die Speerspitze der Reformgegner bilde, könne nicht mehr geduldet werden.

Retten, was zu retten ist

Der Brief gehört zu den verzweifelten Anstrengungen der Reformfraktion, zu retten, was noch zu retten ist. Denn der Versuch von Staatspräsident Mohammed Chatami, der vor sechs Jahren mit dem Anspruch angetreten war, das System im Rahmen bestehender Machtverhältnisse zu reformieren und eine zivile Gesellschaft zu schaffen, ist so gut wie gescheitert.

Die Gründe dafür liegen nicht allein in dem unnachgiebigen Widerstand der Konservativen, sondern auch darin, dass weder der Präsident noch die Reformer, die im Parlament die Mehrheit bilden, es gewagt haben, die Heiligtümer des Systems anzutasten.

Chatamis großes Verdienst ist, dass er beharrlich auf der Notwendigkeit von Reformen bestand und damit die Widersprüche des Systems auf die Spitze getrieben hat. Unter seiner Regierung ist das Land nach innen und außen weitaus offener geworden. Obwohl Terror und Unterdrückung fortdauern, ist die Angst vor den Machthabern verschwunden. Chatami ist kein Revolutionär, nicht einmal ein konsequenter Liberaler. Er bekennt sich zu der Verfassung der Islamischen Republik, deren Substanz das System der Welajat-i-Fakih, der absoluten Herrschaft der Geistlichkeit, bildet. Sein Ziel ist zwar eine zivile pluralistische Gesellschaft, er will aber gleichzeitig den Gottesstaat bewahren. Genau an diesem Widerspruch ist er gescheitert.

Der Widerspruch zwischen einem Gottesstaat, der seine Befehle von Gott empfängt, und einer Republik, die nach dem Willen des Volkes handelt, nagt seit der Gründung der Islamischen Republik an der Substanz des Staates. Zwar werden Präsident und Parlament vom Volk gewählt, ihnen gegenüber steht jedoch das System der Welajat-i-Fakih, das durch den Wächterrat, die Justiz, durch militärische und paramilitärische Organisationen, religiöse Stiftungen und nicht zuletzt durch die Instanz des Revolutionsführers Politik und Wirtschaft völlig beherrscht.

Was sich im Augenblick im Iran vollzieht, ist ein qualvoller Prozess, weitaus wichtiger als die Bewegung, die zum Sturz der Monarchie geführt hat. Es geht um die Neugeburt eines säkularen Staates, um den Sprung von der Tradition in die Moderne. Gelingt er, hat dies für die islamische Welt weitreichende Folgen.

Betrachtet man die politische Bühne Irans, sieht man auf der einen Seite Islamisten diverser Schattierungen, die mit aller Gewalt jede Veränderung und jeden Fortschritt zu verhindern versuchen, auf der anderen Seite die überwiegende Mehrheit des Volkes, die dem islamischen Staat den Rücken gekehrt hat und nach Freiheit ruft.

Dazwischen steht ein machtloser Präsident, der vor den Konsequenzen seiner eigenen Worte zurückschreckt. Er hat es nie gewagt, die von den Konservativen gesetzte rote Linie zu überschreiten. Zudem haben er und der Kreis um ihn es versäumt, die zivile Bewegung durch Verstärkung von regierungsunabhängigen Organisationen, Gewerkschaften und Verbänden oder gar Parteien zu fördern. Das Volk wurde immer wieder zur Teilnahme an Wahlen mobilisiert und danach nach Hause geschickt. Chatami hat sich meist mit schönen Worten begnügt und Hoffnungen geweckt, ohne Taten folgen zu lassen.

Schließlich, von allen Seiten bedrängt, hat er im vergangenen November seine wohl letzten Trümpfe auf den Tisch gelegt. Es waren zwei Gesetzesvorlagen. Eine sollte dem Wächterrat die Praxis untersagen, bei Parlamentswahlen Kandidaten aus ideologisch-politischen Gründen auszusieben. Diese Gesetzesinitiative gewinnt vor den Parlamentswahlen im Frühjahr 2004 an Bedeutung. Die Konservativen machen keinen Hehl daraus, dass sie entschlossen sind, bei diesen Wahlen alles daran zu setzen, um die Mehrheit der Reformer zu brechen und das Parlament zurückzuerobern.

Beim zweiten Entwurf geht es um die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten. Er soll das Recht erhalten, auf die Einhaltung der Verfassung zu achten, im Falle einer Missachtung die Entscheidung aufzuheben und die Entscheider zur Verantwortung zu ziehen. Die Brisanz des Entwurfs liegt darin, dass er dem Präsidenten unter anderem das Recht einräumt, Gerichtsentscheidungen, wie Urteile gegen die liberale Presse, aufzuheben.

Die Diskussion über die beiden Entwürfe wurde so hochgeschraubt, dass sie allgemein als schicksalsbestimmend für die Reformbewegung eingestuft wurden. Chatami deutete an, dass er im Falle einer Ablehnung sein Amt niederlegen würde. Denn ein machtloser Präsident sei überflüssig, sagte er. Auch zahlreiche Mitglieder der Reformfraktion bekundeten ihre Absicht, im Falle des Scheiterns der Gesetze abzutreten.

Chatami resigniert

Wie erwartet, lehnte der Wächterrat beide Gesetze ab. Chatamis Reaktion darauf: Er habe, sagte er, ein Minimum an Forderungen gestellt. Sollten diese nicht akzeptiert werden, sei der Staatspräsident völlig ohne Nutzen. Welche Konsequenzen er aus dieser richtigen Schlussfolgerung ziehen wird, sagte er nicht.

Die innenpolitische Ausweglosigkeit wiegt umso schwerer, da das Land ernsten Bedrohungen von außen ausgesetzt ist. Spätestens mit dem Irakkrieg haben die Machthaber in Iran begriffen, dass die Attacken aus Washington nicht leere Worte sind.

Diese Attacken haben sich in den letzten Wochen verschärft. Zu den alten, bekannten Vorwürfen sind neue hinzugekommen. Die US-Regierung wirft Iran vor, Mitgliedern von al-Qaida Zuflucht gewährt zu haben, die Anschläge in Riad seien von Iran aus geplant worden, und Iran sei dabei, sowohl den Friedenprozess zwischen Israel und Palästina als auch den im Irak zu sabotieren. Die psychologische Kriegsführung ist in vollem Gange. Mehrere Fernseh- und Rundfunksender versuchen rund um die Uhr das iranische Volk, besonders Jugendliche, zum Widerstand zu ermuntern. Oppositionelle Gruppen im Ausland, insbesondere die Monarchisten, erhalten aus Washington politische und großzügige finanzielle Unterstützung.

Die USA geben unverblümt zu, dass sie einen Regimewechsel in Iran vorbereiten. Sollte das Erfolg haben, wären die Folgen für das Land verheerend. Denn eine solche Einmischung würde den Prozess der Demokratisierung, der inzwischen die gesamte Gesellschaft erfasst hat, um Jahre zurückwerfen. Wie in keinem islamischen Land hat in Iran eine radikale und tief greifende Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, Tradition, auch der Religion stattgefunden. Iran könnte der gesamten islamischen Welt als Vorbild dienen. Das mögliche Scheitern Chatamis bedeutet nicht, dass die Demokratiebewegung gescheitert ist. Im Gegenteil, diese Bewegung hat Chatami längst überholt. Was sie zum Stillstand oder gar Scheitern bringen könnte, wäre ein Angriff von außen.