zwischen den rillen
: Zivilisationskritik auf CD: Grandaddy und Radiohead

Schlecken an der Batteriesäure

Ich kannte mal einen sehr freundlichen Hund, der, wie Hunde das so an sich haben, im Wald mal aus purer Neugier an einer Autobatterie geleckt hatte. Seitdem war seine hübsche Schlabberzunge von der Säure durch hässliche, fünfmarkstückgroße Löcher entstellt.

Man muss kein verzärtelter Romantiker oder reaktionärer Pfadfinder sein, um angesichts von Wohlstandsmüll und Zivilisationsschrott ein leichtes Unbehagen zu fühlen. Der Musiker Jason Lytle verspürt sogar ein ganz gewaltiges Unbehagen am bisweilen verheerenden Fortschritt der modernen Welt als solcher: „Go progress chrome / They paint the moon today / In some brand new future color / but I like it how it’s always been“, dichtete er noch auf dem phänomenalen Debüt seiner Americana-Band Grandaddy, „Under A Western Freeway“.

Unter den Autobahnen des Westens nämlich liegt die ursprüngliche Welt begraben, und die Trauer über ihren Verlust gossen die kinn-, backen und auch sonst ziemlich zottelbärtigen Großväterchen aus Kalifornien in fragile Rocksongs. Mal als Epos, mal als Skizze – aber immer als Low-Fidelity mit brüchigem Bombast. Brauchten sie auf der Bühne mal ein Sinfonieorchester, so wurde einfach ein Walkman mit entsprechendem Sound ans Mikro gehalten.

Das Große im Kleinen, das Kleine im Großen, das verrostete Autowrack im Teich, das verlassene Mondmobil im Mare Tranquilium – beides Quellen der gleichen Melancholie: „I try to sing it funny like Beck“, singt Lytle, „but it’s bringing me down, lower than ground.“

Lustig ist auch „Sumday“ nicht geraten, das nunmehr dritte Grandaddy-Album und eine „Arbeiterplatte“, wie Lytle sagt. Inhaltlich drehen sich die Songs um den quälenden Stumpfsinn der Werktätigkeit, der nur durch das kommerzielle, natürlich gelogene Versprechen auf Erlösung zu ertragen ist – „Sumday“ ist ein Wortspiel aus „irgendwann“ und, sinngemäß, der „Summe aller Tage“. Es ist Musik, mit der Lytle die Verlierer des täglichen Rattenrennens nach Feierabend im Autoradio beglücken will.

Der logische Schritt ins Politische zeitigt ein ungewöhnliches Ergebnis: „Sumday“ ist Grandaddys bisher eingängigste Platte geworden, angesiedelt zwischen Jeff Lynnes seligem Electric Light Orchestra und dem geradlinigen College-Rock von Weezer. Wie Zucker ins Blut geht hier ausnahmslos jeder Sing-Along-Song sofort ins Ohr, auf akustische Experimente, expeditionsfreudiges Ausufern, kurioses Knistern oder abrupte Rhythmus- und Stimmungswechsel wurde konsequent verzichtet. Statt dessen regiert eine proletarische Konventionalität, die gerne auch auf die Texte übergreift: Zeilen wie „I have to say / I’m okay / With my decay“ oder „Bye bye / I’m on stand-by“ beschreiben exakt den betäubten Geisteszustand, den erreicht, wer sich von diesen harmonisch einlullenden Kompositionen einfach berieseln lässt –Melodien von so heimtückischer Süße, dass man aus purer Neugier fast dran lecken möchte. Es ist natürlich Batteriesäure.

Wenn Grandaddy sozusagen „working man’s E.L.O.“ sein wollen, sind Radiohead längst „thinking man’s Pink Floyd and Autechre, all rolled into one“. Hier ätzt gar nichts, sondern ist aufs Allerfeinste legiert. Von den eisigen Gipfeln ihrer umjubelten Gitarrenrockplatte „OK Computer“ haben sich die Briten elegant zurückgezogen, „Kid A“ und „Amnesiac“ markierten die elektronische Lösung für ein praktisches Problem: Wohin mit den hohen Erwartungen? Fürderhin genügte es nicht mehr, sich mit Rockmusik auszukennen – nein, wer Radiohead gerecht werden wollte, der musste schon Labels wie Warp kennen oder mit den Werken von Aphex Twin oder Squarepusher vertraut sein.

Jetzt also „Hail To The Thief“, ein Album, das das Beste aus beiden Welten zu vereinen trachtet, hymnische Riffs wie schmelzende Dioden und subsonisches Geplucker. Songs und Tracks. Gotische Spannungsbögen und monotone Muster. Die Quadratur des Kreises also, die Vermählung zweier Glaubensrichtungen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Wer Radiohead bisher für eine Band für zum Auf-dem-Bett-Liegen-und-traurig-Sein gehalten hat, wird erst Mal auf dem Bett liegen und ratlos sein.

Und sich bald Thom Yorkes eigenwilliger jammernder Sangeskunst zuwenden. Dass es in Pop oder Rock derzeit keine gelenkigere Stimme gibt, die Untiefen der Seele einzufangen und abzubilden – geschenkt, das sind sportliche Maßstäbe. Es ist aber genau diese recht einzigartige Stimme, die ein so akademisches und warmes Projekt wie „Hail To The Thief“ erst musikalisch möglich macht und zum Kunstwerk vollendet. Ja, Kunstwerk. In den Charts werden wir sie nie wieder sehen. Radiohead sterben. Aber sie sterben schön langsam, in berückender Schönheit.

ARNO FRANK

Grandaddy: „Sumday“ (V2 Records)Radiohead: „Hail To The Thief“ (EMI)