„Die junge DDR war pleite“

Interview ROBIN ALEXANDER
und MATTHIAS BRAUN

taz: Herr Niethammer, ist der 17. Juni ein Gedenktag der Rechten?

Lutz Niethammer: Nein. Von seiner historischen Genese her war dieser Feiertag ein Anlass, an dem man die nationale Frage thematisieren konnte. Das war in den 50er-Jahren nicht rechts. Im Gegenteil: Es stand in scharfem Gegensatz zu Adenauers forcierter Westintegration. Rechts war der 17. Juni in den 70er- und 80er-Jahren in der Wahrnehmung der westdeutschen Linken.

Entsteht seit der Wiedervereinigung ein neues Bild vom 17. Juni?

Kein neues, sondern ein ergänztes Bild. Die beiden Grundinterpretationen, die in der Bundesrepublik seit den 50ern dominieren, stammen von Klaus Harpprecht einerseits und Arnulf Baring andererseits. Ihre damalige Aussage verträgt sich nicht damit, wie wir die beiden heute wahrnehmen: Harpprecht, später Mitarbeiter von Willy Brandt, war damals der Rechte und deutet den 17. Juni als Volksaufstand. Baring, heute ein Nationalkonservativer, war damals der Linke und deutete den 17. Juni als Arbeiterprotest. Durch die Forschung des letzten Jahrzehnts kam eine Perspektive hinzu: In kleineren Städten und auf dem Land beteiligten sich weit mehr Menschen an dem Aufstand, als bisher bekannt war.

Ist der 17. Juni ausgeforscht?

Seine wirklichen Rätsel sind nicht gelöst. Wie entsteht ein solcher Funke, der in nur einem Tag auf den Großteil eines Landes überspringt? Wie ist das möglich bei den Deutschen, die ja wirklich kein revolutionserprobtes Volk sind?

Was vermuten Sie?

Ohne den Rias wäre der 17. Juni wahrscheinlich ein Berliner Ereignis geblieben. Dieser Aufstand war die erste medienvermittelte Revolte, die ein Regime binnen eines Tages delegitimierte.

Welche Perspektiven vermissen Sie noch in der Literatur über den 17. Juni?

Bisher sparen die historischen Erklärungen den deutsch-deutschen Zusammenhang aus. Die forcierte Bonner Westintegration führte zur Ablehnung der Stalinnoten, in denen ein Weg zur Wiedervereinigung formuliert war. Deshalb diktierte der Kremlherr der SED ein gigantisches Rüstungsprogramm. Binnen eines Jahres ging die DDR daran Pleite.

Herr Niethammer, war die Erinnerung an den 17. Juni wichtig für die friedliche Revolution von 1989?

Die Wende wurde vorbereitet von jungen DDR-Oppositionellen, die sich nicht an den 17. Juni, aber an den Prager Frühling, an Solidarność und an die Friedensbewegung erinnern konnten.

Die Bürgerrechtlerin Marianne Birthler, die heute die Stasiakten verwaltet, behauptet: 89 stehe in der Tradition von 53.

Am 17. Juni beteiligten sich überwiegend Arbeiter. Die Organisationsformen waren die der alten Arbeiterbewegung. In Bitterfeld und Görlitz ergriffen zwar Einzelne Initiativen zu weiter gehenden Programmen. Darüber hinaus blieb es aber bei amorphen Volksaufläufen und teilweise gewalttätigen Ausbrüchen des Volkszorns gegen die SED-Herrschaft und deren Symbole. Das ist ein deutlicher Unterschied zu den Aktionen von 1989, die im Schutz der Kirche vorbereitet wurden. Diese disziplinierte Opposition kalkulierte genau, was sie machen konnte. Vor allem eines hatte sie eingesehen: Mit Gewalt ist gar nichts zu holen. 1989 ist also kein erfolgreicher 17. Juni, sondern – wenn Sie so wollen – ein erfolgreich vermiedener 17. Juni.

Welche Rolle spielten die 53er Erfahrungen für die SED?

Die Genossen zogen auch ihre Lehren. Erstens: Nach dem 17. Juni wurde der Stasi-Apparat flächendeckend hochgezogen. Zweitens: Die SED hat später nie mehr gewagt, den Arbeitern an die Geldbörse zu gehen. Anders als bei den Oppositionellen war 1989 in der SED-Führung der Juni-Aufstand sehr präsent: Oft waren das ja noch die gleichen Leute, die 1953 in Panik zu den Russen gelaufen waren und um Hilfe gebeten hatten. Oder deren engste Ziehsöhne.

Sind denn die Ziele 89 nicht die gleichen wie 53 gewesen?

1953 ging es zuerst einmal darum, dass ausgerechnet die Arbeiter beim „Neuen Kurs“ vergessen worden waren. In den Fällen, in denen es überhaupt zu programmatischen Äußerungen kam, ging es tatsächlich auch um Freiheit und einen nationalen Appell an Westdeutschland. Beides ist 1990 realisiert worden. Allerdings oft gegen den Willen der Bürgerbewegten von 1989! Die hatten weder ausgereifte wirtschaftspolitische Vorstellungen noch unterhielten sie intensivere Kontakte zu den Arbeitern.

Welches Interesse haben Ex-Bürgerrechtler heute, eine Traditionslinie zwischen 53 und 89 zu konstruieren?

Die Bürgerbewegten sind in der Bundesrepublik mit wenigen Ausnahmen rasch marginalisiert worden. Sie spielen keine Rolle mehr. Der 17. Juni war im Westen hingegen immer eine geheiligte Größe. An diese Resource der westlichen Erinnerung wollen die Bürgerrechtler heute anknüpfen.

Warum gibt es zwischen jungen Ostdeutschen und deren DDR-sozialisierten Eltern keinen Generationenkonflikt, wie ihn die 68er mit der Nazi-Generation austrugen?

Die westdeutsche Nachkriegsgeneration wuchs in einer Atmosphäre öffentlichen Schweigens über die NS-Verbrechen und privater Fasziniertheit vom Krieg auf. Diese Art, mit Geschichte umzugehen, ist den Ostdeutschen erspart geblieben. Hinzu kommt, dass man die Stasi nicht mit Auschwitz vergleichen kann. Der Alltag in der DDR war zwar in vielen Details totalitärer als der im nationalsozialistischen Deutschland. Aber im Ausmaß der begangenen Verbrechen verbietet sich der Vergleich. Die Rede vom Totalitarismus sollte im Kalten Krieg die östlichen Diktaturen in eine Reihe mit den NS-Verbrechen stellen. Wir müssen lernen, dass mehr Totalitarismus auch weniger Verbrechen heißen kann.

Herr Niethammer, stärker als früher wird heute auch an deutsche Opfer im 20. Jahrhundert erinnert, etwa an die Bombennächte des 2. Weltkriegs. Liegt das Erinnern an den 17. Juni in diesem Trend?

Das Erinnern an Deutschland ohne die deutschen Schmerzen war immer verkehrt. Ich habe mich ein Leben lang dafür stark gemacht, die NS-Zeit offen und mit Konsequenzen aufzuarbeiten. Falsch war aber zu sagen: Es gibt ein großes Verbrechen, Auschwitz, und alles andere ist dem gegenüber nicht erinnerungswürdig. Das führt dazu, dass nicht Wirklichkeit erinnert wird, sondern nur ein Symbol.

Sie behaupten, die Erinnerung an Auschwitz lässt andere, später gemachte Opfererfahrungen nicht zu?

Die meisten Menschen habe ja keine persönliche Erinnerung an die Judenvernichtung. Sie akzeptieren eine medial vermittelte Erinnerung und trennen reale Erinnerungen davon ab. Eine solche Spaltung zwischen dem, was man historisch gelernt und moralisch eingesehen hat, und der eigenen Erfahrung ist kein guter Prozess. In der Konkurrenz beider Diktaturen um öffentliche Anerkennung verblassen alle Opfererfahrungen neben dem Holocaust.

Was folgt aus dieser von Ihnen beschriebenen Konkurrenz der Opfer?

Viele in Westdeutschland haben gelernt, Auschwitz sei das Einzige und das Wichtigste. Deshalb schaffen wir es nicht, uns auf eine nicht kränkende Weise in Beziehung zu setzen mit Leuten, die liebevoll behandelt und anerkannt werden müssten, obwohl sie nicht den gleichen weltgeschichtlichen Stellenwert haben. Auschwitz ist das Wichtigste, aber nicht das Einzige.