Stalin fliegt aus Zodel raus

aus Zodel WALTRAUD SCHWAB

Stolz auf die Männer sind sie. Dass die eine so was nach 50 Jahren über den Ehemann sagen kann und die andere über den Vater, das überrascht Ursula Jaeger und Ingeborg Mielsch selbst. Nicht Überheblichkeit ist gemeint, Nase hoch – das nicht. Ein einfacher Stolz ist es. Weil die Ehefrau von Kurt Jaeger und die Tochter von Willi Michel den Alltag mit den beiden Männern nicht ausklammern, ist Überhöhung ausgeschlossen. Der Vater, der Ehemann – „die waren halt auch Menschen“, sagt Mielsch.

In Zodel, dem östlichsten Dorf in Deutschland, direkt an der Neiße, wohnen die beiden Frauen. Auch Jaeger und Michel hätten ihr ganzes Leben dort leben wollen, wären nicht der Krieg, der 17. Juni, das Zuchthaus dazwischengekommen. Bodenständig sind die Leute im Dorf. Bauern eben. Das sind sie vom Wesen her geblieben, selbst als ihr Vieh und die paar Hektar Boden gegen ihren Widerstand doch in der LPG, der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, landeten.

Ein Mensch von solchem Schlag war „der Jaeger Kurt“ auch. Der Artikel vor seinem Namen adelt ihn. „Der war beliebt. Der hat sich nicht verbiegen lassen. War für Gerechtigkeit. Nur zu früh müssen gehen hat er“, sagt seine Frau. „Ist gestorben. Plötzlich. Mit 69 Jahren. 1996 war das.“ Die Satzstellung ist Ursula Jaegers einziges Souvenir aus Schlesien, ihrer Heimat. Aus Bunzlau ist sie, polnisch Boleslawiec. 40 Kilometer von Zodel entfernt.

Aus demselben Holz wie der Jaeger Kurt ist auch der Michel Willi gewesen. Zehn Jahre saß er im Loch, hat aus dem Blechnapf gefressen, hatte Hofgang in der Schweinebucht. So nannten die Politischen die gefliesten Zellen, über denen statt eines Daches ein Drahtverhau war. 1963 kam er raus. „Zwei Tage vor seiner hochzeit war das“, sagt Ingeborg Mielsch, seine Tochter.

„Dass der Jaeger Kurt hat müssen ein Politischer werden, das war doch nicht seine Absicht gewesen“, sagt seine Frau. Sie zeigt auf ein Foto von ihm. „Ein hübsches Mannsbild, nu?“ Nach der Wende sollte er Bürgermeister werden. „Er hat mich gefragt, ob er es soll machen“, aber die Ehefrau war dagegen. Der Mann war immer zu sehr bei sich, zu wenig bei ihr. Dann ist er gestorben. Sie, Witwe mit 57 Jahren. „Ich hab mir das anders vorgestellt.“ Es ist wie das Schicksal von der Frau des unbekannten Soldaten, an das auch niemand denkt. „Stimmt, stimmt“, sagen Ingeborg Mielsch und Ursula Jaeger fast wie im Chor. Die Geschichte hört mit dem Tag, an dem sie stattfindet, nicht auf. Aus Sicht der Frauen fängt sie da erst an. Der Mann geht. Der Vater geht. „Wenigstens hab ich nicht müssen warten auf ihn, als er im Zuchthaus war, sagt Ursula Jaeger. Sie verliebten sich erst ineinander, als er draußen war.

Ingeborg Mielschs Mutter hatte da anders zu kämpfen. Als ihr Mann weg war, musste sie das Land verpachten, die fünf Kinder alleine versorgen. „Aber das ganze Dorf hat den Familien, denen die Männer gefehlt haben, geholfen.“ Es ist der Dorfchronist Manfred Goldberg, der das erzählt. Er war als 15-Jähriger dabei, als am 17. Juni fast die ganze Gemeinde gegen den Bürgermeister Schneider und den LPG-Vorsitzenden demonstrierten. „Der Jäger Kurt, der Michel Willi und die vier anderen, die noch verurteilt wurden, wenn auch nicht so lang, die sind doch auch im Zuchthaus gesessen für uns“, meint der Chronist.

Ingeborg Mielsch war sieben, als sie in der Nacht auf den 18. Juni den Vater abholten. Sie ist nicht aufgewacht, als die kasernierten Volkspolizisten die Küchentür einschlugen. „Rädelsführer, Kriegshetzer, faschistischer Propagandist“, so lauteten die Anschuldigungen gegen Michel und Jaeger. Vor Gericht und in der Presse. Nicht so für die Tochter. Für sie war der Vater ein Abwesender. Zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Eine Ewigkeit. Einerseits hat das Mädchen auf seine Rückkehr gewartet, andererseits nicht. „Für ein Kind wird der Ausnahmezustand schnell normal“, sagt Mielsch. Als der Vater zehn Jahre später heim kam, nachts, war er ein Fremder. „Man hat sich die Hand gegeben.“ Bald danach hat er angefangen, ihr Zettel hinzulegen. „Stube auskehren“, daran erinnert sich Mielsch, die 37 Jahre im Tagebau Berzdorf gearbeitet hat, noch. „Da hab ich auf stur geschaltet.“

Ingeborg Mielsch sitzt in ihrer Stube. Couchgarnitur, Schrankwand, eine Vase mit gehäkelten Nelken auf dem Tisch. Schwer, sich vorzustellen, dass da an dem Fenster die Demonstration vorbeigezogen ist. „Doch, doch, ich sehe es heute noch vor mir wie damals“, sagt Mielsch. Der Vater lief vorneweg und schrie etwas. Die Leute schrien es nach. „Weg mit der SED“, „freie Wahlen“, „Schlesien zurück“, „Absetzung des Abgabesolls“, „Gleichstellung aller Bauern“, so lauteten die Parolen, wie aus den Gerichtsakten hervor geht. Ungefähr 700 Leute, drei Viertel des Dorfes, waren auf den Beinen am Abend dieses 17. Juni. Männer, Frauen, Kinder. Es gibt keine Fotos davon. Nur Polizeiprotokolle. Und Erinnerungen von der Revolution. Es war eine. Da im hintersten Dorf Sachsens, wo die Leute unzufrieden waren mit der Politik. In 259 Orten soll an dem Tag gestreikt worden sein. Zodel jedoch gehörte zu jener Handvoll Gemeinden, in denen der Bürgermeister, der Schulleiter, der LPG-Chef abgesetzt wurden.

„Gut, es haben sich dann ein paar Dinge ereignet, die die Seele kränkten“, berichtet der Chronist Manfred Goldberg, der jahrelang als Mathematiklehrer an der Mittelschule im Dorf unterrichtete. Jaeger und Michel waren am 17. Juni morgens in Görlitz, der nahen Stadt, gewesen. Da haben sie die Streiks der Waggonbauer mitgekriegt, die Stürmung des Gefängnisses. 50.000 Leute sollen in Görlitz demonstriert haben. „Der Kurt und der Willi, die haben das nach Zodel gebracht“, erzählt Ursula Jaeger. Für den Abend wurde ein Treffen bei der LPG ausgemacht. „Dort sind ein Stalin- und ein Pieck-Bild aus dem Fenster des Büros geflogen. Der Schreibtisch wurde aufgebrochen, die Papiere raus geworfen. Aber niemand ist am Leib verletzt worden“, erzählt der Chronist.

Von der LPG sind die Leute in einer Demonstration die zwei Kilometer lange Dorfstraße entlanggezogen bis zum Gasthof Kindler. Vorbei an den Bauernhöfen, die weit auseinanderliegen. Dazwischen Bäume, Felder, dahinter der Fluss. Der Bürgermeister, der Schulleiter, die Pionierleiterin und ein Wachposten wurden mit roten Fahnen zusammengebunden und mussten vor dem Zug her marschieren. Vor das Wirtshaus wurde ein Tisch gestellt. Auch der Bürgermeister sollte darauf eine Rede halten, aber er fiel runter. „Später wurde daraus ein tätlicher Angriff gemacht.“

Nachdem der Bürgermeister entmachtet und ein neuer ausgerufen war, habe im Dorf die große Furcht begonnen, erzählt Manfred Goldberg. Im Radio hatten die Leute von der Niederschlagung der Aufstände gehört. Noch in der Nacht wurden 28 Zodeler verhaftet. Die meisten kamen wieder frei. Nicht so der Jaeger Kurt, der 18-jährig noch 14 Tage Soldat war und vier Jahre in russischer Gefangenschaft saß, sowie der Michel Willi, der einen Arm in Stalingrad gelassen hatte.

Ins Gefängnis kamen auch der Rönsch, der Altmann, der Höer und der Wibbe. Bis auf einen, „der nach drüben gemacht hat“, sind sie mittlerweile alle tot. Jetzt müssen die Frauen die Geschichte weitergeben. „Ich freue mich, dass es endlich wieder Thema ist. Die Männer haben so hohe Strafen bekommen. Das muss man doch wissen“, sagt Ingeborg Mielsch. „Die Einzelhaft soll das Schlimmste gewesen sein“, sagt Ursula Jaeger. „Auch die Wasserzellen, wo die Häftlinge Stunden, manchmal Tage im kalten Wasser stehen mussten“, ergänzt Mielsch. Viel allerdings wissen sie nicht. Die Männer waren zum Schweigen verpflichtet. „Ich habe das Schreckliche in der Seele mit ihm geteilt“, sagt Jaeger.

In Zodel, da ist Geschichte. Und da sind die Wunden, die die DDR geschlagen hat. Zwei Seiten eben: Ein paar Nutznießer des SED-Regimes und die vielen Zodeler, die dagegen hielten. Die meisten Dörfler solidarisierten sich mit den Widerständlern. Sie haben, und das unterscheidet sie von den anderen Ortschaften, bis zum Ende der 50er-Jahre immer wieder Eingaben gemacht und eine Freilassung der Gefangenen gefordert. Das gibt dem Dorf Rückgrat, Eigensinn, Ehrgefühl. „Der Jaeger Kurt hatte keinen schlechten Ruf“, sagt seine Frau. „Er war ja ein Held.“ Weil er nach seiner Haft keine leitende Stellung mehr haben durfte, wurde er Bierausfahrer.