Neo-Cons oder Leo-Cons

Der Einfluss des Philosophen Leo Strauss auf den radikalen US-Neokonservativismus wird jetzt global debattiert

taz-Lesern wurde schon vor knapp drei Monaten an dieser Stelle das erstaunliche Faktum zur Kenntnis gebracht, dass sich die blitzgescheiten Ideologen des amerikanischen Neokonservativismus, William Kristol von Weekly Standard, Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz und viele andere, allesamt als Schüler eines aus Deutschland stammenden jüdischen Philosophen verstehen: von Leo Strauss, einem der hermetischsten Denker des 20. Jahrhunderts, der 1932 Deutschland mit einem Empfehlungsschreiben Carl Schmitts in der Tasche verließ und in den USA später akademische Karriere machte. An der Chicago University schließlich entfaltete er eine fruchtbare Lehrtätigkeit, bis er 1973 verstarb (siehe „Bolschewismus von rechts“, taz, 17. März 2003).

Noch erstaunlicher: In diesen drei Monaten hat ein regelrechter Leo-Strauss-Streit in den längst globalisierten Debattenzirkeln angehoben. Ian Buruma griff zunächst in der New York Review of Books das Phänomen „Straussianism“ auf, und verdeutlichte am Beispiel Strauss, dass der „militante politische Liberalismus“ der Neokonservativen im Kern „antiliberal“ ist. Dann fasste William Pfaff, linksliberaler Kommentator des International Herald Tribune, in die Tasten und schlug seine Thesen wie gewohnt mit der Axt zurecht. Die Neocons seien die „erste intelligente Strömung der Rechten in der amerikanischen Geschichte überhaupt“, und dafür sei führend der Einfluss der „Kultfigur“ Strauss verantwortlich.

Namentlich dessen Elitenphilosophie sei eine Gefahr, wenn sie von hohen Amtsträgern zu einer Doktrin der „notwendigen Lügen“ zurechtgebogen wird. Nur zaghaft erhoben da und dort einzelne Strauss-Schüler das Wort, in Verteidigung ihres Lehrers, der die „andere“ Geistestradition der Sechzigerjahre – neben der der Neuen Linken – repräsentiere, aber gewissermaßen genauso wenig für den Irakkrieg verantwortlich gemacht werden könne wie Adorno für die Baader-Meinhof-Gang. Zuletzt referierte Bret Stephens, ein Strauss-Schüler, in der Jerusalem Post, was denn so alles über seinen Mentor in Umlauf ist, und gab sich deprimiert: „Das ist ziemlich weit entfernt von dem, was ich als Student in Chicago gelernt habe.“ Doch die Ehrenrettung gestaltet sich schwierig. Die New York Times schließlich hat in einem großen Essay die Neocons gar in Leo-Cons unbenannt und die „neuen Imperiums-Errichter“ als die wahren „Erben eines Klassizisten“ erkannt.

Hatte nicht George W. Bush vor einem versammelten Straussianer-Thinktank verkündet: „Ihr seid die besten Köpfe unseres Landes“?

Da platzte der wirklichen Erbin der Kragen. Anfang Juni nun sah sich Jenny Strauss Clay, Tochter des umstrittenen Denkers, zu einer Klarstellung genötigt: „Der wahre Leo Strauss“, erschienen auf den Op-Ed-Seiten der New York Times. Keineswegs könne ihr Vater „zum Mastermind hinter den neokonservativen Ideologen, die die US-Außenpolitik bestimmen“, stilisiert werden, so ihr Plädoyer. Zwar wäre er ein „Konservativer insofern gewesen, als er nicht dachte, dass Veränderung notwendigerweise Veränderung zum Guten bedeute“; Nihilismus und Werterelativismus habe er durchaus das Konzept des „guten Lebens“ gegenübergestellt, das er sein Leben lang in den Werken der philosophischen Klassiker aufzuspüren versuchte. Vor allem aber sei er „in erste Linie ein Lehrer“ gewesen, dem nichts ferner lag war, als „Leute nach seinem Bild zu formen“. Schon deshalb sei es grotesk, von einer Schule des Straussianismus zu sprechen. Ganz zu schweigen von einem verschwörerischen Klüngel, den er gestiftet hätte und der sich, dreißig Jahre nach seinem Tod, Amerika unter den Nagel gerissen hätte. ROBERT MISIK